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Lebensgeschichten
***
Martin Schiffel (*1966): Sturm (Niederstraße), 2010
***
Kiew, Mykolajiw, Tschernihiw, Mariupol, Slowjansk, Charkiw: Wir sind in Gedanken bei euch!
***
Der beschwerliche Weg ins
Licht
***
Der lange Weg ins eigene
Leben
*** Schreiben hilft! Wann immer ich es mir einrichten kann, verbringe ich
Zeit an der Ostsee. Ich bin am Strand und denke: „im Atmen
der Wellen, da atmet die Welt und ich atme mit ihr“.
Nirgends fühle ich mich so verbunden mit der Natur und mit
dem gesamten Kosmos. Die Spaziergänge haben etwas
meditatives, ich tagträume und manchmal schreibe ich zuhause
dann meine Gedanken auf und spinne Geschichten. Schreiben
hilft. Es befreit und es stimmt mich zuversichtlich, und
wenn ich mein Geschriebenes dann mit anderen teile, bekommen
auch die schweren Geschichten eine gewisse Leichtigkeit und
– es macht Freude. Heimat Noch schöner ist es, wenn diese
Schreibspiele zu zweit oder in einer Gruppe gemacht werden.
Dann finden sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede, es öffnen
sich völlig neue Perspektiven und Entwicklung findet statt.
***
Krieg
Wieder ist Krieg und ich mittendrin und
in
den alten Geschichten und
wieder ist Krieg.
Seit
ich vor 10 Jahren das erste Mal auf der Seite der
Lebensgeschichten war und seit dem immer mal wieder etwas
von mir mit Euch geteilt habe, hatte ich den Eindruck, mich
weiter und weiter von der Last entfernt und das Alte hinter
mir gelassen zu haben. Doch jetzt ist wieder Krieg und ich
reagiere wie früher; schwere Bauchschmerzen, Notaufnahme,
Autoagressionen. Ist die Haut, die ich über all die Narben
hatte wachsen lassen, doch nur so dünn, dass sie gleich
wieder aufbricht, wenn das Undenkbare und Unfassbare in
mittelbarer Nachbarschaft erneut aufflammt? Ja, es ist wohl
leider so. Die Haut ist dünn und leicht verletzlich.
Vielleicht tröstete es mich ja, wenn ich mir eingestände,
dass der neuerliche Krieg und die neuerlichen
Lügengeschichten zu seiner Rechtfertigung bei mir zu einer
Re-traumatisierung geführt haben. Dann könnte ich auch
besser verstehen, warum ich so reagiere, wie nach der
Traumatisierung als Kind von Kriegskindern.
Am
besten ginge es mir aber, wenn ich zugäbe, dass mich das
alles einfach überfordert. Die Nachrichten, die Kommentare
und die Bilder, die ich mir gar nicht erst ansehe. Und doch
zieht es mich, wie damals schon mit 13 Jahren, als ich mir
die ersten Landser Hefte kaufte und mir so den Krieg in mein
Kinderzimmer brachte, immer wieder in den Bann. Sind die
Geschichten von damals nicht auch die Geschichten von heute?
Ist das Schwadronieren über Entnazifizierung und Befreiung
des Brudervolkes nicht das gleiche, wie Anno 1943 in der
Sportpalastrede über den totalen Krieg? Ja, es ist das
Gleiche! Und damit bin ich auch schon mitten drin! Scheiße
noch mal!
Ich
habe mir eine fünftägige Nachrichtensperre auferlegt. Das
tat richtig gut. Hier ist ja Frieden und die Sonne scheint!
Aber dann doch wieder der Bann des Bösen! Ich will da
endlich raus! Ja, manchmal gelingt es mir, die
Erregungskurve nicht so hoch ausschlagen zu lassen und mich
selbst zu beruhigen. Ja, und manchmal gelingt es mir auch,
alles auf Abstand zu bringen. Und dann nehme ich
Erleichterung wahr. Und Entkrampfung. Und dann bin ich hier
und in diesem Augenblick und hier ist kein Krieg und hier
darf ich sein, einfach nur so.
Das
hat zwar keinen Sinn und hat auch keinen Zweck. Das ist nur
ein Moment, der ohne Lügen, den Kreislauf dieser Welt zum
Stehen brachte. Wir können zwanglos über uns verfügen. Und
da ist nichts, was uns beschränkte und bewachte. Und da ist
nichts mehr, was uns uns verbot. Wir schneiden die Verbote
einfach ab. Die Zeigefinger unserer Väter und die Atemnot
und alles das, wofür man uns erzogen hat.“ (nach Konstantin
Wecker „Zwischenräume“)
Ja,
ich gehe einfach milder mit mir um, erlaube mir, mich lieb
zu haben. Und ich sehe ein, dass das Kriegsenkelsein zu mir
gehört und ein Teil meiner Selbst ist. Dann geht es schon
besser und ich stehe dem Ganzen nicht mehr so ohnmächtig
gegenüber, so re-traumatisiert. Dann bin ich
handlungsfähiger und selbstwirksamer und vielleicht auch
wieder hoffungsvoll und lebensfroh. Jedenfalls wünschte ich
mir das so sehr.
Stefan Groeger,
Weimar, 19. März 2022
***
Mit der Kerze in Ruinen Ich bin ein typisches Nebelkind. Ich komme erst jetzt so langsam heraus und leide darunter, Licht in die Dunkelheit bringen zu müssen, fühle mich davon eigentlich komplett überfordert. Wäre es nicht leichter, die Dunkelheit zu lassen statt mit dem Licht in jede Ecke leuchten zu müssen? Ich habe den Eindruck, ich bin mit dieser Mission zur Welt gekommen. Die Ruinen meiner Heimatstadt Dresden haben mich begleitet bis ich 20 war und in meinen Träumen. Zuverlässig immer kamen mir bittere Tränen des tiefen Verlustes, wenn ich Bilder oder Berichte der Zerstörung meiner Stadt sah oder las. Sie trafen auf einen riesigen Resonanzboden in mir. Keine Rettung weit und breit, selbst retten war seit jeher die Devise. Was es mir heute sehr schwer macht, mich selbst zu retten, weil ich dahinter immer die gewaltige Überforderung spüre. Der Krieg war etwas so großes, das war nicht durch ein kleines Mädchen heilbar. Gesellschaftlich wurde unsere Generation haftbar gemacht und musste – mit einem ewigen dicken Imperativ – gefälligst glücklich und erfolgreich werden. Meine Mutter war ansprechbar und emotional, aber vor allem hinsichtlich ihrer eigenen Verluste. Mein Vater war so wie alle anderen Männer – nicht da. Keine Präsenz. Obwohl er lebte, in unserer Nähe. Weg, das war das Profil meines Vaters. Liebevoll und nicht zuständig. Sein Vater war 1945 im Krieg umgekommen, an Wundbrand gestorben, nachdem der Lazarettzug, den er begleitete, angegriffen wurde. So war die einzige Info die ich jemals dazu bekam. Seine Frau war fast genau so alt und schwanger, mein Vater war wohl in einem Heimaturlaub entstanden. Ihre Angst und ihre Trauer, als ihr Mann nicht wiederkam, die Angst und Überforderung mit zwei Kindern weiterzumachen, spüre ich heute noch. Vaters Schwester war fast 17 Jahre älter und eher die Komutter. Aber er, er war der Junge, der geliebt wurde aber nie den Vater auch nur annähernd hatte ersetzen können. Diese Trauer blieb und ich glaube, sie blieb unausgesprochen. Noch heute kommen ihm die Tränen und er hat einen Kloß im Hals, wenn er von seinem Vater spricht, den er nie kennengelernt hat. Dass er uns beide, meine Schwester und mich, anders als sein Vater bewusst hat sitzen lassen und damit tief verletzt hat, ist ihm nicht bewusst. Gezählt hat nur Mutters Trauer, wir haben funktioniert. Beide. Er hat uns bis heute nie gefragt, wie wir das erlebt haben, wie es uns ging damit. Nie. Und das wird er auch nicht mehr. Meine Mutter hat als 1,5 Jährige den Bombenangriff auf Dresden erlebt. Jahrzehnte später hat sie oft mit Panik reagiert, als würde ihr wieder alles über dem Kopf zusammenstürzen. Kein Dach mehr, keinen Schutz. In einer Sitzung bei einer Heilerin habe ich statt ihrer den Kopf aus den Ruinen gesteckt und über all dem Staub und Rauch die helle, viel zu grelle Sonne gesehen. Es war ein so deutliches Bild, dass ich hätte schwören können, es war real. Das war mein Auftrag, seit ich geboren bin. Eigentlich der Auftrag meiner Generation: Lebe und hol uns die Sonne zurück. Der Vater meiner Mutter war ein anerkanntes Opfer der Nazis und ein Rhinozeros. Er wurde verhaftet von der Gestapo als junger Mann und musste als junger Vater nach Rhodos im Strafbatallion 999, wo lauter missliebige Leute reingesteckt wurden, dem Verderben anheimgestellt. Er widmete sich nach Kriegsende dem Aufbau des Sozialismus, wurde fälschlicherweise der Sabotage angeklagt und saß 1,5 Jahre in Bautzen, hielt aber dem System die Treue. Meine Oma musste allein klarkommen. Sie war eine einfache Frau vom Land und nicht dumm aber mit wenig Perspektive und einer engen Weltsicht großgeworden. Er dachte wohl, er könne sie beeinflussen aber hatte nicht mit ihrem Sturschädel gerechnet. In familiärer Hinsicht war mein Opa eine totale Null. Seine einzige Tochter – meine Mutter – hat er nie verstehen wollen und sich hinter seinen Folgefrauen versteckt. Er hat seine Tochter im Grunde verraten. Für uns war er auch nie da, es waren immer Staatsbesuche bei ihm. Ich mochte ihn früher aber später habe ich das deutlicher gesehen. Vor einem halben Jahr, als der letzte Mann mich verließ nach kurzer leidenschaftlicher Zeit, kam die Panik mit voller Wucht. Seitdem hänge ich sehenden Auges in einer Depression drin, wie alles habe ich trotzdem auch jetzt alles im Griff, die Arbeit, den Haushalt, die Freundschaften, meine Kinder - nur mich nicht. Gar nicht. Meine Seele rebelliert und lässt nicht mit sich handeln. Sie interessiert sich nicht für motivierende Worte und Taten, sie will aufatmen. Gesehen werden, das ist ein tiefsitzendes und nie wirklich befriedetes Bedürfnis von mir, gesehen werden und NICHT bewertet, für zu wenig befunden. Als Kind lebte ich zeitweise in einer Blase, ich habe mühsam meine Welt aufrecht erhalten. Alles Elend der Welt fand den Weg in mein Herz. Es gab immer die beiden: die lustige frohe Frau, lebensstark und zukunftsorientiert. Und die rückwärtsgewandte, die trauerte und sich verbarg vor der Sonne. Aus der Dunkelheit der Kriegseltern und – kinder zu treten wäre einem Verrat an ihrem Leiden gleichgekommen. Ich habe alles von Beginn an körperlich ausgedrückt, was in der Seele schieflag. Mir ist in der Jugend wenig Frauenbrust gewachsen, weil ich Weiblichkeit mit Schwäche verband. Mit Liegenbleiben und verschüttet sein. Als ich Mutter wurde, blühte ich auf aber ich verband Weiblichkeit immer noch mit Handlungsunfähigkeit. Damit, benutzt zu werden. Verfügbar zu sein und weich. Ich wollte das gern, aber ich konnte nicht wirklich, da schwallte immer der Widerstand in mir auf. ICH BIN NICHT SCHWACH! Und jetzt bin ich genau das. Ich muss hinsehen und mir Zeit geben, Zeit die ich nicht bestimmen kann. Das fällt mir unsagbar schwer. Ich will funktionieren und habe Spaß daran. Ich liebe es, kraftvoll aufzustehen und den Tag zu er-leben. Und doch, die eigene Schwermut ist nicht zu überreden. Wenn ich jetzt wieder drüber bügele, werde ich meine chronischen Rückenschmerzen nie los und der Dunkelschleier wird sich nie heben. Ich bin also mit einer kleinen Kerze auf dem Weg in einen verschütteten Keller voller Not. So lautet mein Auftrag, den ich nicht wollte und den ich nicht ablehnen kann. Ich habe bereits viel hinter mir gelassen, aber ich versuche noch immer, meinen Platz zu finden. Ich bin 50 und habe nicht mehr alle Zeit der Welt dafür. Ich habe nicht nur den Auftrag der Generationen vor mir, sondern vor allem den, mein eigenes Leben in dem Anspruch zu vollenden, seine Potenziale genutzt zu haben. Als ich jung war, habe ich es so formuliert: ich will wenigstens sagen können, ich habe es versucht. Sagen zu müssen, ich habe mich versteckt und sei es auch nur für ein halbes Jahr, gehört nicht dazu. Sibylle, geb. 1971, August 2021
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Schon immer fühle ich mich von Büchern und Filmen über den 2. Weltkrieg auf gruselige Weise angezogen, will alles wissen, sehen, hören, mit dem diffusen Gefühl, damals "schon gelebt" zu haben oder dass das zumindest etwas mit mir zu tun haben muss. Dabei sind vor allem Schuldgefühle präsent, es gibt eine starke Opfer-Identifikation und auch ein sehr unangenehmes Gefühl von Mitläufer-Verständnis. Januar 2021
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Was der Krieg mit meiner Familie gemacht hat Ich kam 1989 zur Welt und mein Bruder 1985. Dennoch sind wir beide sogenannte Kriegsenkel. Materiell hat es an nichts gefehlt, dafür mehr an der emotionalen Beziehung zu unseren Eltern. Mein Großvater väterlicherseits wurde 1913 geboren in eine ärmliche Familie mit sieben Kindern in Süddeutschland. Schon von klein auf mussten er und seine Geschwister permanent mitarbeiten, um das Überleben der Familie zu sichern. Mit 28 wurde er als Unteroffizier in Norwegen eingesetzt. Nie werde ich die Geschichten vergessen, wie ihm die Kugeln am Kopf nur so vorbei flogen oder auch am mettalenen Zigarettenkasten abprallten. Oder wie ihm die Flucht aus dem amerikanischen Gefangenlager nach Kriegsende gelang. Mein Großvater war ein Kämpfer, der sich Schwäche nie eingestand. Nachdem drei seiner sechs Brüder im Krieg fielen, durfte er für ein Jahr nach Hause, um seinen Meister als Gipser zu machen. Doch dann kam der Volkssturm und er musste nochmal zurück an die Front. Nach dem Krieg lernte er meine Oma, Jg. 1921 kennen. Sie hatte ihren einzigen 18 jährigen Bruder im Krieg verloren, worüber ihr Vater nie richtig hinweg kam. Mit ihrem Handwerkerbetrieb bauten sich meine Großeltern väterlicherseits guten Wohlstand auf. Doch die Erziehung meines Vaters (*1956) war oft geprägt von Härte, sodass mein Vater ein negatives Weltbild und tiefes Misstrauen in sich entwickelte, das er unbewusst an uns Kinder weitergab. Auch eigene Unzugänglichkeit und Verdrängung übernahmen wir vom Vater. Meine Mutter (*1958) wiederum wurde als Kind nicht gesehen. Ihr Vater war zu Kriegsende 14 Jahre alt und ihre Mutter 13. Beide hatten die Entbehrungen der Besatzung hautnah miterlebt. Der Vater meiner Mutter war wiederum Bürgermeister und wäre fast von den Nazis in den letzten Kriegstagen stand rechtlich erschossen worden, weil er in seinem Dorf die weiße Fahne hissen ließ. Im letzten Moment konnte er in die Schweiz flüchten. Emotionale Wärme hatten beide Großeltern mütterlicherseits nicht erlebt. Deshalb blieb dies auch meiner Mutter verwehrt, die Zeitlebens deshalb mit ihrem Selbstwert zu kämpfen hat und dies an uns Kinder unbewusst weitergeben hat. Meine Eltern waren zeitlebens bestrebt "gute Kinder" zu sein. Und dennoch war gut nie gut genug. Perfektionismus schien die Lösung für alles zu sein. Heute ist klar, dass das leider nicht ganz korrekt ist. Heute kämpfen mein Bruder und ich gegen das negative Weltbild und gegen den Perfektionismus an. Genauso wie gegen die eigene Unzugänglichkeit und das Eingeständnis eigener Bedürfnisse. August 2020
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Nie dabei und doch erlebt Nie saß ich im Bunker Nie hörte ich die Bomben Doch all das prägte mich Noch heute höre ich, bei jedem Donnerschlag, Karin Rosenplänter - 2006
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Die Tränen meiner Eltern
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Ein Dank an alle Verfasserinnen und Verfasser der Lebensgeschichten Letztens habe ich einen Bekannten auf das forumkriegsenkel aufmerksam gemacht. Ein für mich sehr gestandener Mann, dem ich gar nie angesehen hätte, dass ihn innerlich so viel umtreibt. Danach habe ich geschaut, ob bei den neueren Lebensgeschichten im Forum auch etwas für ihn dabei sein und ihm weiter helfen könnte. Und bei den neusten Lebensgeschichten wusste ich wieder, das hier ist ein magischer Ort. Wo sonst ist es möglich, von vollkommen unbekannten Menschen so tiefe und berührende Einblicke in ihr Leben und ihre Verstrickungen in Vergangenheiten zu erfahren. Die Geschichten, allesamt, und ihre Verfasserinnen und Verfasser wirken auf mich immerzu derart authentisch und unmittelbar, dass ich jede und jeden von ihnen so gerne einmal um mich herum wüsste, um zu fragen, zu fühlen, zu trauern und zu begreifen, was das Erlebte und Erfahrene mit uns und unserem Sein so alles angestellt hat. Dank, für die intensiven, schmerzhaften, befreienden, erlösenden und hoffnungsvollen Einblicke in die auch dramatischen Leben der anderen und vor allem Dank, dass aus den Texten so viel Heilung und Wachstum sprechen darf, wenn erst einmal der Raum der Erkenntnis aufgegangen ist, das Vergangene, betrauert, vielleicht Stück um Stück losgelassen werden kann. Es ist ja oftmals wie ein Muster, das im Bann hält und das wichtig und stimmig war, zu schützen, was Innen so wertvoll und doch so verletzlich ist. Von diesem Muster abzuweichen, es auch in größter Not nicht aufzugeben, bedeutete ja Gefahr, und dabei ist es oftmals auch geblieben. Mit den Lebensgeschichten im Forum erfahre ich nun immer und immer wieder, dass Muster und musterhaftes Verhalten, die oft nur der Aufrechterhaltung von scheinbar ausweglosen Lebenssituationen dienen, veränderlich sind, wenn ein Schauen hinter die Kulissen der Vergangenheit beginnt. Dann kann langsam und bedacht Neues entstehen und das Alte endlich und wirklich zurückbleiben. Das zu „erlesen“ ist für mich das schönste Erleben an den Lebensgeschichten und dafür mein großer DANK! Stefan, Juli 2020
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Lange Schatten Durch einen Radiobeitrag aufmerksam geworden, hab ich dieses Forum hier gefunden. Ich las den ersten Beitrag und sofort fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich war regelrecht baff. War dies das Puzzleteil, welches mir so lange gefehlt hat? Aber von vorn… Ich wurde 1974 gewünscht und erwartet in die DDR hineingeboren. In dieser Zeit war die DDR in ihrer Hochphase und ich hatte eine grösstenteils schöne Kindheit dort leben können. Meine Eltern sind beide 1950 direkt in dieses System hineingeboren und kannten bis 1989 überhaupt nichts anderes. Die Nachkriegsjahre am Rand von Berlin haben ihnen eine recht angenehme Zeit zum aufwachsen ermöglicht. Alles war im Aufschwung. Meine Großeltern sind alle zwischen 1918 und 1930 geboren. Geprägt wurde ich hauptsächlich von den Grosseltern mütterlicherseits, da ich bei ihnen den Grossteil der Zeit verbrachte und sie in derselben Straße wohnten. Mein Opa war 1918 auf die Welt gekommen und hat die Nachkriegswehen des 1. Weltkrieges noch erlebt. Im beschaulichen Böhmerwald hatte er eine schöne Kindheit, bis er vertrieben wurde und mit ihm die gesamte Familie sowie die Familie meiner Oma (geboren 1924). Die zwei waren nicht füreinander bestimmt, beide hatten wohl ihre Liebe eigentlich gefunden, aber durch die Kriegsjahre nichts mit den Partner beginnen können. Mein Opa geriet in russische Kriegsgefangenschaft, er war bei der Wehrmacht und ich denke heute, in dem Glauben, etwas Gutes zu tun. Er musste 10 Jahre in Sibirien in einem Lager ausharren. Sie haben dort heimlich Schmuck und Bilderrahmen gefertigt, einen gibt es noch. Als er nach dieser schweren Zeit zurück kam, traf er auf meine Oma, die in dieser Zeit auch eine wahre Odyssee erlebt hat. Die Flucht aus Böhmen mit nur einem kleinen Koffer, das Neuankommen in Dresden und alles, was ihnen auf dem Weg dahin passiert war, darüber wurde nicht viel gesprochen, genau wie über die Kriegsjahre meines Opas. Da beide nun mit ihrer eigentlichen Liebe nichts mehr anfangen konnten, fanden sie sich irgendwie zusammen und bauten sich ein Leben auf. Was genau auf der Flucht mit meiner Oma geschah und als die Russen dann kamen und alle gemeinsam in einem Haus Unterschlupf hatten finden können, aber die Tochter der Schwester meine Oma bitterlich weinte und alle nur zischten, dass sie still sein müsse, sie würde alle verraten, darüber lässt sich nur spekulieren und vermuten. Dies zur Familiengeschichte. Meine Kindheit in der DDR war schön und frei. Das hört sich komisch an, frei…. Aber so fühlte es sich an, wenigstens die ersten 5 Jahre. Der Kindergarten war das Grösste für mich. Dann fing ich jedoch DDR-typisch früh mit 5 mit dem Leistungssport an. Und hier muss ich sagen, beginnt meine Odyssee und ich realisiere erst jetzt, wie stark das Ganze eigentlich schon vorherbestimmt war durch die Familiengeschichte. Ich geriet in ein System aus Machtmissbrauch, Vertrauensbruch und einer milden Form von Sadismus. Es geht auch um sexuelle Belästigung und Erniedrigung. Ich habe mich immer gefragt, warum ausgerechnet ich die war, die es am härtesten traf. Permanent hatten es die Trainer auf mich abgesehen, obwohl wir im Team 3 waren. Versteht sich von selbst, dass ich nie gewinnen konnte und immer im Schatten stand. So lange ich mich erinnern kann, habe ich extremst reagiert auf Ungerechtigkeiten, die Frauen widerfahren. Sobald Männer ihren Status als Stärkere ausleben mussten, hat sich in mir alles aufgebäumt. Sogar, dass Frauen die Qualen einer Geburt erleben müssen, hat mich so dermaßen wütend gemacht. Und ich habe das so gar nicht verstanden. Weil Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau war in der DDR gross geschrieben. Ich habe selber keinerlei Ungerechtigkeiten erlebt. Mir wurde bis dahin nichts angetan. Und trotzdem haben mich bestimmte Menschen - das sehe ich jetzt erst mit 46 Jahren - sofort als Opfer erkannt und das auch ausgenutzt. Von heute aus würde ich sagen, dass ich in diesen Opferstatus gar nicht aus meinem eigenen Leben heraus hineingeraten bin. Da war etwas anderes. Etwas, das ich nicht greifen konnte. Was von aussen kam, von woanders, worauf ich keinen Zugriff hatte. So lange ich zurück denke, hatte ich Angst vor sexueller Gewalt. Erst in den letzten Jahren und nach der Geburt meines Kindes hat sich vieles total normalisiert. Aber jetzt verstehe ich auch und konfrontiere mich. Egal was ich auch anfangen wollte, es wollte einfach nichts so recht gelingen. Zuerst blieb mir das Abitur versagt, da gab es trotz systemtreuer Eltern Probleme, trotz 1,5er Notenschnitt. Und ich fügte mich. Dann begann ich eine Ausbildung, die so gar nicht meine war. Ich erkannte es und brach ab. Es folgte ein Praktikum in einem Familienbetrieb, das war eine Katastrophe. Chef und Chefin Alkoholiker und Choleriker. Ich litt sehr darunter. Ich blieb dem Job treu, welchselte aber den Ausbildungsbetrieb. Dort lief es zunächst. Dann jedoch wollte ich zusätzlich nach 2 Jahren Arbeit auf die Meisterschule gehen. Zuerst ok vom Chef bekommen und Aufnahmeprüfung bestanden. Kurz vor Antritt sagte er mir dann, es geht doch nicht, er braucht mich im Geschäft. Und eigentlich kann ich das ewig so fortführen, was immer ich anfangen wollte, es kam jemand, der mir Knüppel zwischen die Beine warf und ich? Fand nicht die Kraft zu kämpfen. Ich fügte mich. Nach dem Lesen einiger Artikel hier habe ich nun mein Problem erkannt. Ich bin zutiefst verstrickt mit meiner Omafamilie. Ich habe Ängste, die aus ihrer Erfahrung resultieren. Ich geriet in sexuellen Missbrauch, weil das scheinbar ein Familienthema ist (dabei ist das aus meinem Leben eigentlich gar nicht mein Thema und auch sehr weit weg von mir). Ich hatte Angst vor Schwangerschaft, wo ich noch nicht mal Sex hatte. Ich hatte Angst in geschlossenen Räumen, nächtliche Panikattacken bis zur Bewegungsunfähigkeit und Alpträume. Und all das hat mit mir im heute so gar nichts zu tun. Ich weiss nicht, wer ich bin, wohin ich will und fühle mich nicht im Leben angekommen. Nicht in MEINEM Leben. Warum bin ich da? Was ist meine Aufgabe? Welchen Beruf hätte ich gerne gehabt, nachdem mir mein Wunsch Zahnärztin schon mit 14 zerschlagen wurde? Ich weiss es nicht. Irgendwas stimmt doch nicht mit mir. Ich mache anderen meistens etwas vor. Die Schwester meiner Oma war sehr früh schwanger geworden (Erzählung als ich fast erwachsen war). Ungewollt, zu früh und vor allem unverheiratet. Das Kind musste also weg und so wurde es auch gemacht. Meine Oma war das jüngere Mädel und die Mutter sagte ihr wohl immer nur `dass du mir ja nicht mit einem Balg heim kommst`. Dabei wusste sie noch nicht mal, wovon man überhaupt schwanger wird. Ihr (Liebes-) Leben war geprägt von Ängsten und Sex war ihr wohl ein Graus. Was mich wieder an das Haus mit den Russen denken lässt und was ihr da wohl passiert ist. Mein Opa war jemand, der liebevoll war, allerdings auch Disziplin und Geduld verlangte. Was kleinen Kindern nicht unbedingt so gefällt. Er hat es erwartet und ich habe gefolgt, immer in der Angst, nicht zu gefallen oder als nicht gut genug bewertet zu werden. Seine Kriegsschrecken tauchten erst wieder im Sterbebett auf. Als ich ihn im Krankhaus besuchen konnte, war er schon im Delirium. Und er murmelte permanent von den Russen und von Kriegsdingen. Leider vieles unverständlich und daher verloren. Auch sonst habe ich vieles mit meiner Oma gemeinsam. Die wahnsinnig grosse Liebe zu Tieren, die Orientierungslosigkeit, die gern gelebte Fürsorge zb für alle zu kochen. Auch sie war in ihrem Leben eine Verlorene. Und irgendwie erkenne ich grade, dass es mir ganz genauso geht. Zu allem Übel wurde der Alptraum für mich aber noch dadurch grösser, dass ich nicht nur ein Kriegsenkel bin, sondern auch noch ein Stasikind. Was das bedeutet, weiss man nur, wenn man es erlebt hat. Auch hier bin ich wieder Opfer anderer Leute geworden, obwohl ich niemals irgendetwas selbst mit dieser Behörde zu tun hatte. Es bedeutet von anderen Kindern geächtet zu werden, Isolation, Abschottung und eingesperrt sein in ein System, das man selber nicht mitgeschaffen hat. Aber vielleicht war es irgendwie das Bestreben meines Opas alles besser zu machen, als bei der Wehrmacht für Deutschland. Ein anderes Extrem, möglichst weit weg davon was vorher war. Irgendwie fühle ich mich damit doppelt bestraft. Wenn man jetzt denkt, was für ein trauriges Leben, stimmt aber auch das nicht. Ich habe geheiratet und zwar die Liebe meines Lebens. Ich habe ein Kind, was ich mir sehr gewünscht habe. Ich habe einen Hund, der einen ganz grossen Teil meines Lebens füllt. Ich habe einen Job, der mich zwar nicht glücklich macht, aber immerhin meinen Lebensstandard sichert. Und das alles 600 km von meinem Geburtsort und der Familie entfernt. Vielleicht bin ich irgendwann so weit, dass ich zurück kann. Aber die Verlorenheit wird mich wohl ewig begleiten. S.M., Juni 2020
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Das große Unbekannte in mir
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Identität Ich wurde 1971 geboren und bin in zwei Kriegskinder-Familien aufgewachsen. Bis zu meinem neunten Lebensjahr bei meiner Mutter (1945 geboren) und meinem Vater (1934 geboren). Scheidung, sadistischer neuer Ehemann. Dann trank meine Mutter Salzsäure. Es war ihr dritter Selbstmordversuch, dieses Mal erfolgreich, und mein kleiner Bruder und ich kamen in die Familie unserer Tante (1938 geboren). Sie war die ältere Schwester unserer Mutter. Meine Mutter war Lehrerin (Sport und Handarbeiten). Ich erinnere sie als liebevoll und traurig und wunderschön. Mein Vater war ein völlig aus der Spur geratener Pseudo-Intellektueller und Pseudo-Jazz-Drummer, der Rothändle ohne Filter aus schwarzen Zigarettenspitzen rauchte und immer einen Anzug trug und obendrein noch spitzenmäßig aussah, am Ende war er aber einfach nur ein Säufer. Sein um einige Jahre älterer Bruder, SA-Mitglied, war gegen Kriegsende an der Ostfront verschollen, und ich glaube, die Eltern meines Vaters haben diesen toten Nazi (den ich irgendwann offiziell für tot erklären lassen musste) immer mehr geliebt als ihren lebendigen Sohn. ~ Mehr weiß ich inzwischen über die Geschichte meiner Familie mütterlicherseits, denn ich habe kürzlich Kontakt zu einem Onkel aufgenommen, dem älteren Bruder meiner Mutter, und ich bin ihm sehr dankbar, dass er mir so viel über die Familiengeschichte erzählt. Mein Onkel wurde 1944 geboren. Ganz anders als in meiner Erinnerung, waren meine Großeltern mütterlicherseits keine strammen Nazis. Das Gegenteil war der Fall. Meine Erinnerung beruhte vor allem auf dem Satz:“Dein Großvater ist aus Angst vor den Alliierten an einem Hirnschlag gestorben“. Inzwischen weiß ich, dass ich diesen Satz völlig fehlinterpretiert habe. Mein Großvater kam aus Leipzig, wo er auch meine Großmutter kennengelernt hat. Er war Direktor einer Schule in Colditz. Weil ihm eines Unfalls in seiner Kindheit wegen ein großer Teil eines Fußes fehlte, wurde er nicht eingezogen. 1937 ließ er sich „aus gesundheitlichen Gründen“ nach Aurich (Ostfriesland) versetzen. In Wirklichkeit ließ er sich versetzen, weil er Angst hatte, von Bekannten in Leipzig als Jude denunziert zu werden. Denn er war Halbjude. In Leipzig war ein jüdischer Freund von der Gestapo abgeholt worden und nie wieder aufgetaucht - daraufhin hat sich mein Großvater einen gefälschten Ariernachweis organisiert und ist damit auch tatsächlich durch den ganzen Krieg gekommen. Er hat Aurich während des Krieges kein einziges Mal verlassen. Seine Frau und die Kinder haben den größten Teil des Krieges in einem kleinen Ort in der Nähe Leipzigs verbracht. Dort lebte die Schwester meiner Großmutter, sie hatte ein großes Grundstück: Obstbäume, Gemüse, Hühner. Die Lebensmittelversorgung war also gut. Ihr Mann musste nach Kriegsende mit ansehen, wie seine Tochter immer wieder von Russen vergewaltigt wurde. Er hat den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbracht, wahrscheinlich hatte er einen Schlaganfall. Eines Tages hat er versucht, meiner Mutter über den Kopf zu streicheln. Es ist ihm nicht gelungen. Sie nahm seine Hand und führte sie über ihr Haar. Plötzlich konnte er lachen und war glücklich. Ich weiß nicht, ob er ein Nazi oder ein Opfer war. Mein Großvater sah sehr gut aus und war ein ziemlicher Schwerenöter. Er hatte in Aurich viele Affären mit Frauen, deren Männer an der Front waren. Den Auricher Frauen konnte bei so intimem Kontakt kaum entgehen, welches Körperteil ihn als Juden identifizierte. Deshalb wurde in Aurich bekannt, dass er Jude war, und deshalb wurde meinem Onkel, der mir grade all diese Familiengeschichten erzählt, eines Tages im Schwimmbad von einem anderen Jungen die Badehose runtergezogen: „Stimmt, er ist ein Jud“. Doch niemand hat meinen Großvater denunziert. Er starb in Aurich, kurz nach Kriegsende und noch vor der Geburt meiner Mutter. „Dein Großvater ist aus Angst vor den Alliierten an einem Hirnschlag gestorben“. Das hatte ich als Kind so interpretiert, dass mein Großvater ein Nazi gewesen wäre und Angst vor den Alliierten hatte. In Wirklichkeit war es ganz anders. Er ging kurz nach Kriegsende von der Schule, in der er unterrichtete, nach Hause, und sah: Die Engländer hatten sein Haus ausgeräumt, um Wohnraum für Offiziere zu schaffen. Sämtliche Möbel standen im schweren ostfriesischen Regen auf der Straße. Im Nachhinein war es übrigens so, dass die Engländer das Haus gegenüber plötzlich attraktiver fanden und sich dort einquartiert haben. Er versteckte sich bei einer Nachbarin vor seinen eigentlichen Befreiern. Seine Nachbarin setzte ihn aufs Sofa und ging Tee kochen. Als sie ihm den Tee brachte, fand sie ihn schlafend auf ihrem Sofa. Am nächsten Morgen schien er immer noch zu schlafen, doch er war tot. Wahrscheinlich auch ein Schlaganfall. Er wurde 52 Jahr alt. Er war vielleicht plötzlich noch viel haltloser als unter dem Nazi-Regime. Er war ein Halbjude, der, um unter diesem Regime überleben zu können, sämtliche Hinweise auf sein Judentum vernichtet hatte. Nazideutschland hat den Krieg verloren - wer bin ich jetzt? Ein Arier, der die Alliierten fürchten muss? Oder ein Jude, der von den Alliierten gerettet wurde? ~ Nach dem Selbstmord unserer Mutter landeten mein kleiner Bruder und ich bei ihrer älteren Schwester, 1938 geboren. Sie war ein knallharter Eisbrocken und hat uns von der ersten Sekunde an nicht gewollt. Ihr Ehemann hat bei all dem keine Rolle gespielt, hat sich immer nur sein knallrotes Gesicht mit Seife abgeschrubbt und an seinen freien Abenden die Schuhe der Familie geputzt. Sie war der Chef. Über die Herkunft und Geschichte dieses angeheirateten Onkels weiß ich nichts. „Ihr sollt dankbar sein!“, wenn wir einfach nur kleine, verlassene Kinder mit einer toten Mutter waren. „Stimmt’s, oder hab ich Recht?“, wenn wir einfach nur kleine Kinder waren, die die Welt nicht kapieren konnten oder die Welt anders begriffen haben als der Eisbrocken. Damals war AIDS großes Thema, und ich erinnere übelste Homophobie. Das verstand ich schon als Kind, das keine Ahnung von Sexualität hatte, nicht. Ich habe die Schwulen als Opfer gesehen, nicht als Täter. Alles war Strafe und Hass. Eine Mark Taschengeld im Monat (mein Bruder erinnert fünf Mark), die uns aber immer direkt wieder abgenommen wurde, weil wir irgendein schweres Vergehen begangen hatten. Ich habe mit 12 Jahren angefangen, Lack-Eddings und sonstige kleine Status-Symbole zu klauen, denn dadurch, dass ich die abgetragenen 70er-Jahre-Klamotten meiner Cousine auftragen musste, hatte ich ohnehin einen sehr schweren Stand in der Schule. Niemand hat mir erzählt, wie meine Mutter gestorben ist. Meine Tante sagte tatsächlich, sie wisse es selbst nicht, doch schon als Kind erschien mir das äußerst unwahrscheinlich. Meine Tante war sogar zu herzlos, sich irgendeine „normale“ Todesart auszudenken, mit der kleine Kinder hätten umgehen können. Sie ließ uns im Ungewissen. Das war Folter, denn ich habe immer gefühlt, dass meine Mutter sich umgebracht hat. Als ich 13 war, habe ich den Dokumentenschrank meiner Tante durchsucht und fand die Bestätigung. Ich nahm all meinen Mut zusammen und habe meine Tante damit konfrontiert. Dass ich an ihre Unterlagen gegangen war, war das schwerste Vergehen überhaupt. Nun hielt ich es wirklich nicht mehr aus. Mir war endlich alle vermeintliche Sicherheit oder Versorgung egal, ich wollte nur noch raus aus diesem Haus. Ich habe 50 Mark aus dem Sparschwein meines Cousins geklaut und mir ein Zugticket nach Aurich, zu meiner Großmutter, gekauft. Theoretisch hätte ich sie natürlich vorher anrufen können, aber die Wählscheibe des Telefons meiner Tante war mit einem Schloss versehen. Auch die Türen zur Küche und zum Wohnzimmer wurden für die Nacht abgeschlossen. Alles, damit „die angenommenen Kinder“ die Familie nicht durch einen Griff in den Kühlschrank oder ein fünfminütiges Ortsgespräch finanziell ruinieren konnten. Morgens donnerte meine Tante mit ihren Holz-Clogs die Steintreppe hinunter und rasselte laut mit dem Schlüsselbund. Es war wie im Knast. Es gibt so viel mehr Details, und es fällt mir schwer, nicht alles in epischer Breite zu schildern, jetzt, wo der Bann irgendwie gebrochen ist. Inzwischen weiß ich, dank meines Onkels, der mir seit Kurzem die Familiengeschichte erzählt, dass niemand aus unserer Familie uns nach dem Tod unserer Mutter aufnehmen konnte oder wollte. Mein Onkel, er war die erste Wahl unserer Großmutter, wäre von seiner Frau verlassen worden, wenn er uns aufgenommen hätte. Meine Tante, zweite Wahl, hat uns nur aufgenommen, weil meine Großmutter ihr zusätzlich zum staatlichen Pflegegeld den Großteil ihrer Witwenrente und so einige Wertsachen überlassen hat. Nachdem ich zu meiner Großmutter abgehauen war, musste ich mangels Alternativen zu meiner Tante zurück. Ich habe noch zwei weitere Jahre dort gelebt, und in all dieser Zeit hat niemand aus der Familie mehr mit mir gesprochen, wegen meines schrecklichen Verrats. Außer: „Aufstehen! Keller aufräumen! Garten bewässern! Zaun lasieren! Schlampe!“ Mit 15 war ich ein Wrack. Ich hatte komplett aufgegeben. Doch dann ist mein kleiner Bruder weggelaufen, als er 13 war. Er hatte im Keller eine Konfrontation mit unserer Tante und ein kleines Küchenmesser hinter dem Rücken verborgen. Vielleicht wollte er sie wirklich töten? Ich wollte eigentlich immer nur mich selbst töten. Jedenfalls schrie sie ihn an: „Wenn noch einmal einer von euch wegläuft, dann kommt ihr ins Heim“. Mein kleiner Bruder ergriff die Gelegenheit beim Schopf und lief am nächsten Morgen weg, und damit hat er mir bestimmt das Leben gerettet. Denn wir kamen dann in die Jugendwohngruppe eines Kinderdorfs. Das war zwar auch nicht superoptimal, weil ich mit 15 Jahren von einem 34-jährigen Erzieher in schwerer Midlifecrisis flachgelegt wurde - aber zum ersten Mal bekamen wir die Möglichkeit, wir selbst zu sein. Herauszufinden, wer und was wir sind. Wir waren keine Eindringlinge mehr, die man kleingehalten, gehasst und als Arbeitssklaven missbraucht hat. Wir waren willkommen. Ich war besonders willkommen, denn ich hatte gelernt, willfährig und nett und angepasst zu sein. Trotzdem durfte ich plötzlich Punkrock hören und mich entsprechend kleiden. Das war eine solche Befreiung. Als einzige in der Gruppe, die aufs Gymnasium ging, habe ich meinen Mitbewohnern (die meisten waren auf der Sonderschule) bei den Hausaufgaben geholfen. Das hat mir unendlich gut getan, obwohl die mich natürlich alle für eine arrogante Schnepfe gehalten haben. Plötzlich war ich jemand, der anderen helfen konnte! Darüber definiere ich mich vermutlich noch heute. Wenn ich helfen kann, bin ich nicht völlig wertlos. Als ich grade 18 war, habe ich Kontakt zu meinem leiblichen Vater aufgenommen. Wir haben uns ein paar Mal getroffen, und ich hatte gute Gespräche mit ihm. Ich mochte ihn wirklich sehr, obwohl er seinen Doppelkorn, vor meinen Augen, direkt aus der Flasche trank. Ich hatte Hoffnung auf Familie. Etwa drei Monate, nachdem wir uns erstmals wiedergesehen hatten, rief er mich an, um mir mitzuteilen, dass er sich umbringen würde. Ich habe stundenlang auf ihn eingeredet. Er ließ sich nicht davon abbringen. Ich wurde am Ende so wütend, dass meine letzten Worte an ihn lauteten: „Dann mach doch, was du willst, du Arsch!“ Dann habe ich den Telefonhörer aufgeknallt. Zwei Tage später stand die Kripo vor meiner Tür. Er hatte sich irgendwie mit Strom getötet, während seine Lieblings-Jazzmusik lief. Dann musste ich seine Wohnung auflösen. Die Wohnung eines fremden Mannes, der vielleicht mein Vater hätte sein können. Es ging mir sehr lange ziemlich schlecht. Punkrock, Kokain, Speed, MDMA, totale Verweigerung. Nur so habe ich mich selbst mehr als die Depression und die Angst gespürt. Dachte ich jedenfalls. Mein Abitur habe ich an meinem 18. Geburtstag geschmissen. Natürlich habe ich auch keine vernünftige Ausbildung. Mit den Drogen konnte ich mit Ende 20 ohne Therapie aufhören. Ich war nach Berlin gezogen und konnte dort zufällig im Filmausstattungsbereich Fuß fassen. Für Drogen war da plötzlich gar keine Zeit mehr. Erst mit Mitte 30 habe ich eine Verhaltenstherapie begonnen. Bis dahin war ich davon überzeugt, dass es allein meine Schuld war, dass es mir so schlecht ging. Dass ich nunmal schwach, wehleidig und dumm war. Meine großartige Therapeutin hat mir unendlich geholfen. Ungefähr zu Therapiebeginn habe ich meinen Ehemann kennengelernt. Er hat mir sehr früh erzählt, dass er Vierteljude ist. Sein Vater hatte als Halbjude Buchenwald überlebt, weil er mit dem Stempel „Politischer“ inhaftiert wurde und die inoffizielle kommunistische Lagerleitung ihn allein deshalb vor dem Hungertod bewahrt hat. Zuvor hatte er als Linsenschleifer beim „Roten Zeiss“ gearbeitet. Der Rote Zeiss hat ihm jederzeit freigegeben, damit er mit dem Zug durch Deutschland reisen und schriftliche Nachrichten an Widerstandsorganisationen übergeben konnte. Irgendwann flog das auf, und er wurde nach Buchenwald verschickt. Der Vater meines Mannes war zwar offiziell Halbjude, im Herzen aber ein fundamentalistischer Christ. Mein Mann ist also in einer evangelikalen Sekte (Freikirche) aufgewachsen, unter der Aufsicht eines Vaters, für den die evangelische Religion alles bedeutet hat. Sein Vater hat nach dem Krieg evangelikale Pastoren für die Sekte ausgebildet. Mein Mann hat aus lauter Verzweiflung Theologie studiert, eigentlich aber während des gesamten Studiums depressiv im Bett gelegen und die Wand angestarrt. Er bekam sein Diplom mit den Worten: „Nur, wenn Sie nicht vorhaben, jemals in diesem Bereich zu arbeiten“. Er hat das begeistert bejaht und wurde Journalist. Ich war begeistert über die jüdische Geschichte meines Mannes, denn ich schämte mich so unendlich für meine vermeintlich faschistische Familiengeschichte. Der ursprüngliche Familienname meines Mannes war tatsächlich „Levi“. Seine Familie hat sich in der Vorkriegszeit umbenannt, um ihr Judentum zu verbergen, aber das hat natürlich nicht geklappt. Die gesamte Familie ist rechtzeitig nach Brasilien geflohen, abgesehen vom Vater meines Mannes, denn er wollte ja im Widerstand arbeiten. So haben alle den Holocaust überlebt. Doch ein Onkel meines Mannes lernte in Brasilien seine spätere Ehefrau kennen, und sie war die einzige Überlebende ihrer Großfamilie... Als wir heiraten wollten, habe ich meinen Mann gebeten, seinen ursprünglichen Familiennamen wieder anzunehmen, weil ich das als cooles und fieses Statement für meine vermeintliche Nazi-Familie empfunden hätte. Damals hatte ich ja noch keine Ahnung von meiner jüdischen Abstammung. Aber mein Mann war Journalist bei einer großen Berliner Tageszeitung, stand also in der lokalen Öffentlichkeit und wurde als „Judenjournalist“ auf mehreren einschlägigen Neonazi-Websites geführt. Er hatte Angst. Das ist erst 10 Jahre her. Kurz darauf kauften wir ein Haus in einer brandenburgischen Waldsiedlung im Berliner Speckgürtel, und im braunen Brandenburg war ich plötzlich auch ganz froh, nicht Levi zu heißen. Christina, Mai 2020
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Schuld und Tadel Ich wurde im Dezember 1970 in Berlin geboren und habe eine etwa 4 Jahre ältere Schwester. Meine Eltern sind ebenfalls gebürtige Berliner, 1942 und 1943. Interessant fand ich beim Lesen heute morgen, dass Migräne offensichtlich ein häufiges Symptom darstellt und ich bin sehr froh, dass dieses Leiden mich mittlerweile fast gänzlich in Ruhe lässt, nachdem ich gerade als Kleinkind oft und sehr stark unter Migräne litt. Auch muss ich keine Fingernägel mehr knabbern, bis es blutet und der Schmerz kommt. Aber ganz und gar habe ich die Tendenz zur Selbstzerstörung nie wirklich verloren. Das liest sich alles bestimmt gesetzt und distanziert und es ist richtig, dass ich im Laufe der Jahrzehnte sehr viel Zeit mit Selbsttherapie in verschiedensten Formen gefüllt habe. Die unbändige Wut aber, dieses Brodeln und Kochen, manchmal auch der Moment der stillen Einkehr, wo ich die Augen schließe und mir vorstelle, meine Mutter grün und blau zu schlagen und sie auch mal leiden zu lassen, diese Wut ist vielleicht schwächer geworden, aber auch mit knapp 50 noch unfassbar stark in mir. Damit das nicht der letzte Satz war, möchte ich kurz das letzte Erlebnis mit und bei meinen Eltern schildern. Ich kam damals zu einem kleinen Familienfest und die Ecke im Wohnzimmer meiner Eltern, in der immer das Klavier gestanden hatte, das alte Klavier meines Uropas, das Familienerbstück, das Instrument, auf dem ich Zeit meiner Kindheit und Jugend geübt habe, war leer. „Das haben wir einem Kinderheim geschenkt. Wir brauchten den Platz.“ Jochen, November 2019
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Meine Erfahrungen Mit Wut und Trauer habe ich mehrere Berichte bei Ihnen gelesen. Wünsche allen, die das lesen, sie mögen die Kraft haben zufrieden zu leben. Wolfgang, August 2019
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„Wer weiß, wo Du mal noch landest?“ Mein Vater stammte aus Ratibor, Schlesien und wurde mit 17 Jahren in das letzte Kriegsjahr eingezogen. Er kam im Anschluss für 4 Jahre in russische Gefangenschaft nach Sibirien. Mit 22 kam er nicht nach Hause zurück, sondern zu seinem ältesten Bruder, der nach englischer Gefangenschaft schon im Ruhrgebiet gelandet war. Antje K., geb. 10.10.1965, Juli 2019
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Der 7. September 2018
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Meine traurige Geschichte Ich wurde am 6. Juli 1968 geboren. Mein Vater erblickte das Licht der Welt 1938 im Ruhrgebiet und meine Mutter 1947 auf der Flucht aus Tschechien nach Bayern. Vater war Zeit seines Lebens schwerst traumatisiert und leidet immer noch unter extremen Verlustängsten und daraus resultierendem Kontrollzwang. Im Gegensatz zu meiner unvergessenen Mutter, die letztes Jahr nach schwerer Krankheit verstarb, hatte er keine Familie, die ihm Halt gab und dabei half, erlebte Grausamkeiten aufzuarbeiten. Sein Vater kam erst 195… aus der Gefangenschaft und seine Mutter als gebrochene Frau machte bei der Erziehung nach dem Krieg so ziemlich alles falsch was es nur falsch zu machen gab. Mutter entstammte einer Vergewaltigung und wurde bei den Großeltern erwachsen, die ihr wenigstens Liebe und Geborgenheit gaben. Und das trotz der Erfahrung, in 2 Weltkriegen alles verloren und zum dritten Mal neu angefangen zu haben. Wie das Schicksal nun so wollte lernten sich beide kennen und verliebten sich ineinander. Unbedachtem Sex folgte eine Notheirat und das Kind, welches dazu führte, kam tot auf die Welt. Mein Vater gab mir, obwohl ich anschließend ehelich gezeugt wurde, stets die Schuld daran, dass er heiraten musste und sein Leben angeblich total versaut sei. Somit war ich der Bastard, das Nichts und als Linkshänder und ADHS Kind das unleidliche und schwer erziehbare Stück Dreck, das es galt täglich zu entwerten, zu schlagen und mit Verachtung zu strafen. All die Prügel und erniedrigenden Worte sorgten dafür, dass ich fast meine gesamte Kindheit bis hin zum 21. Lebensjahr unter unmenschlicher Migräne litt und täglich Angst vor den unberechenbaren Macken meines Vaters hatte. Er schlug mich oftmals fast tot, trat mir in den Bauch und gegen den Kopf, erklärte meinen Lehrern ich wäre gefallen und würde lügen, sollte ich etwas anderes erzählen. Ich war heilfroh, als ich die erstbeste, ebenfalls durch die Familie geschädigte Frau kennenlernte und diese dann zwecks gemeinsamer Bewältigung unserer Probleme heiratete. Der Schuss ging nach hinten los, wir als traumatisierte und von unseren Vätern ungeliebte Kinder hatten viel zu sehr mit uns selbst zu kämpfen, als dass wir gemeinsam hätten glücklich werden können. Mit Anfang 30 wurde ich geschieden und merkte, das Leben eines Narzissten und Gewalttäters zu führen, indem man seine Unarten zu eigenen Handlungsweisen machte, das durfte nicht mehr sein und ich krempelte mein eigenes Leben komplett um, die Narben auf der Seele blieben. Der Schmerz, ein gebrochener Mensch ohne Selbstbewusstsein und Hoffnung zu sein, ebenfalls! Vater unterband die nächsten fast 3 Jahrzehnte fast jeglichen normalen Kontakt zwischen Mutter und mir. Kein Problem durfte ich mit Mutter bereden, stets musste sie aus Angst vor Schlägen und seinen Launen vor ihm kuschen. Nur seine Probleme waren es wert beachtet zu werden. Mutters und meine Bedürfnisse waren ihm nicht nur egal, sondern er verbot Mutter den Mund. Machte sie es nicht und hielt zu mir oder wollte mich moralisch unterstützen, so bekam sie Schläge oder wurde über Wochen psychisch dermaßen tyrannisiert, bis dass sie klein beigab und den Kontakt zu mir abbrach. Wie kann ein Mensch nur so grausam sein, seinen eigenen Sohn und seine angeblich geliebte Frau wie Sklaven, Dreck und Fußabtreter zu behandeln? Er nahm mir meine Mutter, selbst als sie im Sterben lag wusste mein Vater noch sein Ego über ihres zu stellen und ihr Barmherzigkeit und Würde zu verweigern, weil kein Pflegedienst in mein Elternhaus durfte. Sie war nicht mal kalt, da sinnierte er schon darüber, wie teuer die Beerdigung würde und dass der Pflegekram schnellstens abzuholen sei. Mir fehlen einfach nur die Worte welch Bosheit in meinem Vater steckt und wie sehr er seine Familie durch Tyrannei, Hass und Neid überall schlecht machte. Lügen verbreitete er bei meinen Freunden, Bekannten, Nachbarn, den Schwiegerleuten. Ja sogar vor meinen Arbeitskollegen machte er nicht einmal Halt um mich überall ins Abseits zu befördern. Das mir wegbrechende soziale Umfeld und die mir damit bereiteten Probleme quittierte dieser Unmensch mit hämischem Lächeln und besserwisserischen Kommentaren, ich sei ja eh jemand den keiner leiden könne. Seit 3 Jahren bin ich nun in Erwerbsminderungsrente, weil ich psychisch ein Wrack bin, ich unter einer Vielzahl an Nervenstörungen leide und darüber hinaus mein Körper durch Bluthochdruck geschädigt wurde. Mein Vater ist erst dann zufrieden, wenn ich vor ihm sterbe, denn ich habe kein Glück im Leben verdient, ich soll verrecken wie ein dreckiger Straßenköter, so sein größter Wunsch! Aber einfordern kann er alles, was er Mutter verwehrte. Wie ich mit meinem Hass fertig werde, das ist diesem Tyrannen egal. Mir aber nicht, dass ich ihn überleben will, koste es was es wolle!!!!! G., September 2018
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Geflohen 1970
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Ich erinnere mich daran Ich bin 1972 geboren, mein Vater 1938, meine Mutter 1940. Meine Kriegsenkelgeschichte betrifft meinen Opa väterlicherseits, der 1945 vom NKWD verhaftet und in dessen Gefangenschaft in einem Speziallager 1947 verstorben ist. Mein Vater war bei der Verhaftung, die Zuhause stattfand, dabei. Die Männer waren in Zivil und mein Opa sagte zu ihm, dass er verreisen müsse. Meine Oma hat ihren Mann bis 1951 gesucht und versucht, etwas über seinen Verbleib zu erfahren, bevor sie dann ohne Ergebnis mit meinem Vater und seinen drei Geschwistern zu einer Verwandten nach West-Berlin geflüchtet ist. Erst durch eigene Recherchen habe ich von alledem 2009 erfahren, die Überreste der Lager und Archive besucht, und konnte mir so nach und nach meine eigenen Ängste und Hemmnisse im täglichen Leben und meine quälenden Träume erklären. Ein Beispiel: Ich habe jahrelang geträumt, ich würde verhaftet und missbraucht werden, bin regelmäßig nachts aufgewacht und habe geglaubt, da ist jemand im Nebenraum, der kommt, um mich zu abzuholen. Unterstützt wurde ich bei meiner Aufarbeitung durch meine Psychotherapeutin. Heute geht es mir besser, aber meinen Opa ganz aus mir raus zu bekommen fällt mir noch immer schwer. Ich möchte mit dem folgenden Text allen Betroffenen Mut machen, ihre Gefühle ernst zu nehmen und ihnen nachzugehen, um sich selbst von dem befreien zu können, was zu ihnen gehört, aber nicht ihr Leben bestimmen sollte. Ich erinnere mich daran, dass ich nackt auf einer Pritsche aus moderigem Holz gelegen habe. Viele Stunden, Tage und Monate. Nach anderthalb Jahren kenne ich jede Unebenheit meiner Unterlage. Ich weiß wie ich mich betten muss, damit keine neuen Splitter abblättern. Das ist nicht so einfach wie es klingt. Meine Haut ist jetzt dünn wie Pergamentpapier. Sie spannt sich über meinen Leib und hält notdürftig alle Knochen zusammen. Manche Stellen nässen vom Eiter. Bei anderen kann ich zusehen wie sie langsam aber sicher von alleine aufreißen. Sie erinnern mich an die Seenlandschaft, aus der ich stamme. Jede Wunde wird zur Sehenswürdigkeit, die ich einzeln benennen kann. So vertreibe ich mir die Zeit. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wann ich zuletzt etwas gegessen habe. Der Hunger schmerzt noch mehr als das Liegen auf der Pritsche. Er nagt an meinem Verstand. Manchmal weiß ich nicht mehr, ob die gefühlten Nagelstiche in meinem Körper von innen oder von außen herkommen. Eigentlich ist es auch egal. Hier im Lager gelten sowieso andere Gesetze. Abgemagerte Gestalten backen aus Sägespänen Brot. Gestandene Männer beißen in das Holz, um den Geschmack von Wasser herauszupressen. Viele streiten sich im Schlaf wegen eines verbliebenen Hühnerknochens. Ich erinnere mich daran zu vergessen, dass es einmal anders war. Sabine, Januar 2018
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Werde Frei! Seit meinem Beitrag „Befreiung?“ vom November 2015 sind schon wieder zwei Jahre vergangen. Doch nun lässt das Vergangene endlich los. Nachdem ich im Sommer 2016 „beschlossen“ hatte, mir mit 57 Jahren einmal eine Kur zu „gönnen“, hat sich etwas entwickelt, das ich als Weg zum inneren Loslassen wahrnehme. Eine Kur ist ja nur möglich, wenn ein „Leiden“ vorliegt. Obwohl unser „Leiden“ als Kriegsenkel als solches ja bereits genügen müsste, uns einmal eine Pause, eine Auszeit vom verzehrenden Alltag zu ermöglichen, begründet dies „Krankheitsbild“ noch keinen Anspruch auf Leistung. Insoweit war ich „froh“, dass ich mit „Reizdarm“, „Rückenschmerzen“ und anderen „Gebrechen“ aufwarten und auf eine verständnisvolle Ärztin treffen konnte. Nach vier Wochen im Südschwarzwald fühlte ich mich ganz geerdet und gut erholt. Leider war dieser Zustand nicht von Dauer. In meiner anschließenden „Nachkur“ zu Hause ist mir so viel bewusst geworden, was ich in den letzten Jahrzehnten mir gegenüber versäumt habe und wie „nachlässig“ ich mit mir umgegangen bin, dass ich erst richtig „krank“ wurde. Dann hatte ich das Glück, in eine kleine Fachklinik im Südschwarzwald gehen zu dürfen. Und dieser Aufenthalt hatte es in sich. Ich wusste, dass ich mir in meinem Leben bereits „alles“ angeschaut hatte und wollte daher in der Therapie noch einmal ganz von vorne beginnen. Und siehe da, gleich nach meiner Geburt und in den darauffolgenden Monaten bin ich fündig geworden. Im Tagebuch meines Vaters aus dieser Zeit steht ja über meine ersten Lebensmonate: „Anfang April (Anm.: da war ich gerade fünf Monate alt) haben wir mit dem täglichen Luftbad in dem großen Obstgarten bei uns begonnen. Ob es sonnig ist oder der Himmel bedeckt, immer kommst Du von Mittag bis Abend mit Deinem Wägelchen in den Garten. Wie oft schleichen Mutti und ich in Deine Nähe, um Dich zu beschauen. Die Luftbäder bekommen Dir ausgezeichnet und mitunter liegst Du ganz nackig und strampelst ganz lustig vor Freude. In dem großen Garten hinter dem Hause in Berlin ist für Dich ein herrlicher Platz. Dort wirst Du jeden Tag von Mutti oder von mir hineingestellt. ... So lange Du noch still in Deinem Wägelchen liegst, bist Du ganz alleine im Garten. Mutti kommt dann schnell nach Hause, säubert und füttert Dich und fährt dann mit dem Fahrrad wieder zur Arbeit. ... Mein Weg ist immer noch zur Universität, ich muss lernen und studieren, doch nehme ich einen kleinen Teil an Deinem Gedeihen, in dem ich Dich versorge, wenn ich zu Hause bin. ... In diesen Tagen, es war um den 20. August, konnten wir im Garten Dich nicht zur Ruhe bringen. Du begannst Dich im Wägelchen aufzurichten. Einmal versucht, nahm es dann kein Ende mehr. Du glaubest wohl, jetzt verpasse ich alles was sich um mich abspielt. Wollten wir fortgehen, so richtest Du Dich sofort wieder selbst auf und schautest nach uns. Ich versuchte ganz schlau zu sein, indem ich schnell fortlief, es half nichts, sofort fingst Du erbärmlich an zu schreien, wenn niemand sich zeigte. Wir wußten schon nichts mehr anzufangen, so verzweifelt schien uns die Situation. ... Am liebsten aber war es Dir, wenn jemand in der Nähe war, dann „unterhieltst“ Du Dich ganz alleine, schnurrtest wie ein Kätzchen.“ Obwohl ich die „Tatsachen“ seit langem kannte, begann ich nur langsam, sehr langsam, zu verstehen und zu fühlen, was da eigentlich dahinter steckt. Für mich ist es die ewige, lebenslange Erfahrung, dass mir kaum Zuwendung zusteht. Damit bin ich schon als Baby konfrontiert gewesen, als Mutter und Vater mich mit fünf Monaten täglich von Mittag bis Abend in meinem Kinderwagen alleine in einen etwa 150 m entfernt von unserer Dachgeschosswohnung im Innenbereich des großen Häuserblocks gelegenen Garten unter zunächst blühenden Kirschbäumen abgestellt und mich erst wieder im Oktober (und bei Gewitter, Regen und schlechtem Wetter) in die Wohnung geholt haben. Beim Lesen dieses Ausschnittes aus dem Tagebuch war mir noch einmal bewusst geworden, wie ich nur sehr langsam und behutsam in der Lage bin, Schicht für Schicht dieser Konditionierung abzutragen. Als ich las, was mein Vater schrieb „Am liebsten aber war es Dir, wenn jemand in der Nähe war, dann „unterhieltst“ Du Dich ganz alleine, schnurrtest wie ein Kätzchen.“ verstand ich meine frühkindliche Konditionierung immer, immer besser. Ja, ich war monatelang in einem „schönen“ Garten abgestellt, niemand hat mein Rufen, mein Weinen, mein Schreien wahrgenommen. Niemand ist gekommen, wenn ich atemlos und schluchzend in meinem Wägelchen lag und mich nach Zuwendung und Trost dürstete. Wenn ich dann endlich wieder in der Wohnung lag, war ich zufrieden, dass überhaupt jemand da war und „schnurrte wie ein Kätzchen“. Daher reichte mir bisher ja auch die bloße Anwesenheit von Menschen aus, mich „in Sicherheit“ zu fühlen und damit „zufrieden“ zu sein. Mehr stand mir ja ohnehin nicht zu. Heute nun merke ich, wie mich dieses ursprüngliche Lebensscript überformt und in Strukturen festgehalten hat, die mir „bekannt“ waren und mir ausgereicht haben. Insoweit habe ich dies ja auch jahrzehntelang nicht hinterfragt und mich mit dem Zustand abgefunden. Glücklicher Weise hat mein Körper gegen all das revoltiert und mich schließlich auf den Weg geführt, den ich derzeit gehe. Meine „ärztliche“ Diagnose lautet ja auch nicht mehr „dies und das“ oder „krampfartige Oberbauchschmerzen“, sondern „posttraumatische Belastungsstörung“. Und das trifft es auf den Punkt. Ja, ich bin als Baby traumatisiert worden. Das hat sich bei mir tief, tief eingegraben. Erst die letzten Monate, beginnend mit der Kur, über die Fachklinik, die vielen Therapien und schließlich auch mit dem Kontakt und regen Austausch mit einfühlsamen Menschen haben bewirkt, dass ich aus der wachsenden Sicherheit heraus, endlich – auch allein und getrennt von Mutter und Vater und ohne „Dauerwiederverschmelzungssehnsucht“ – für mich da sein zu können, Schicht für Schicht dieses Traumas abtragen und fühlen und spüren kann, was mir damals eigentlich geschah. Darüber trauere ich immer mal wieder. Dass ich das noch einmal mit dem Schreiben diese Zeilen erleben und mit Tränen nachfühlen darf, empfinde ist als ein Geschenk an mich. All das konnte ich aber erst erfahren, als das Thema „Kriegsenkel“ für mich bearbeitet war und insoweit nicht mehr im Vordergrund meiner Aufmerksamkeit stand. So haben die Alten dann doch bewirkt, dass ich mich selbst jahrzehntelang nicht sehen und erkennen konnte und daher auch über mich „geschwiegen“ habe. Nun ist der Knoten endlich geplatzt und ich bin dankbar und werde frei! S.G. November 2017
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Kriegsenkel. Immer noch im Krieg Ich wurde 1960 geboren, mein Bruder 1964. Meine Eltern, beide 1932 geboren, haben den Krieg als Kinder erlebt. Beide mussten mit ihren Eltern nach dem Krieg aus Pommern bzw. Westpreußen fliehen. Meine Mutter, autoritär und streng hatte zu Hause das Kommando. Mein Vater, unselbständig und schwach war für die ein drittes Kind. Ich weiß nicht wie oft ich die Geschichten von Flucht und Vertreibung gehört habe, aber manchmal habe ich das Gefühl gehabt, selbst dabei gewesen zu sein. Dazu das Gerede und das Gejammer über die verlorene Heimat. Auch da habe ich gedacht, meine Heimat sei im Osten. Dazu immer das Gefühl, selbst verantwortlich zu sein für den verlorenen Krieg. Mein Vater, obwohl selbst zu jung für den Krieg war immer noch begeistert von den Wochenschauaufnahmen. Immer wieder erzählte er uns wie toll die Flugzeuge doch waren und was für wagemutige Kerle die U-Bootfahrer doch gewesen sein mussten. Manchmal gab es kein anderes Thema. Meine Mutter wollte die perfekte Familie, alles zuhause perfekt sauber und ordentlich. Dass ich, wohnortbedingt keine Freunde hatte war ihr egal. Sie musste ihre Aufgabe erfüllen, da war kein Platz für Vergnügen. Ich habe diese Zeit gehasst und ich hasse sie immer noch. Ich verstehe, dass Menschen die im Krieg ausgewachsen sind so denken und reden, aber was sie aus ihren Kindern, den Kriegsenkeln gemacht haben ist fast ein Verbrechen. Ich kenne viele Männer aus meinem Jahrgang, die auch Kriegsenkel sind, und viele sind im Leben gescheitert. Beziehungsunfähig, Alkoholiker, voller Schuldgefühle und Depressiv. Sie versuchen immer noch das zu verstehen und alles wieder heile zu machen und irgendwas gut zu machen. Und ich versuche das auch oft noch. Dabei war ich gar nicht dabei, und das ist das schlimme. Wie soll ich eine Schuld wett machen, wenn ich gar nicht weiß worum es eigentlich geht? Meine Eltern haben es sich einfach gemacht. Sie haben alles erzählt und ihren Müll abgeladen, und ich war der unfreiwillige Therapeut. Ohne Ausbildung, und viel zu jung. Ich leide immer noch darunter, obwohl meine Eltern inzwischen tot sind. Die Gedanken kommen immer wieder, als wenn es eigene Erlebnisse sind. Das schlimme war, dass man nichts dagegen sagen durfte, dass einen das nicht interessiert. Sie haben einen dazu genötigt, weil sie einen Schuldigen brauchten, der ihnen das alles eingebrockt hat. Die wahren Schuldigen waren zu dem Zeitpunkt tot oder haben sich aus der Verantwortung gestohlen. Ich hasse es, zu dieser Generation zu gehören, aber ich habe keine andere Wahl. Auch ich bin Beziehungsgestört und habe nie geheiratet und keine Kinder. Ich habe für die Erlebnisse meiner Eltern mit meinem Leben zahlen müssen, und dafür werde ich sie bin ans Ende meiner Tage abgrundtief hassen. Das war noch schlimmer als Missbrauch, weil es subtiler war. Ohne sichtbare Spuren, ohne Narben. Die Narben sind auf der Seele, und niemand will sie sehen. Ich habe mir schon oft gewünscht ich wäre selber tot, damit ich das nicht immer wieder durchmachen muss. Die Alten haben ihren Frieden, aber nur auf Kosten ihrer Kinder. Ich kann den Alten dafür nicht vergeben, niemals. Ich kann es verstehen, aber wie sie andere, und dazu noch ihre eigenen Kinder dafür verantwortlich gemacht haben ist geradezu widerlich. Das ist mit nichts zu entschuldigen. Christian. November 2017
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Das nebulöse Erbe der Donauschwaben Ich bin ein Nachkriegskind, das im Oktober 1957 als jüngstes von drei Kindern in Ulm an der Donau geboren wurde. Das ist in zweierlei Hinsicht eigenartig. Mein Geburtsort war mit einiger Sicherheit die Stadt, von der aus meine Vorfahren (nach meinem bisherigen Wissensstand so um 1780) in die neue Heimat aufgebrochen sind und es war im Oktober, gerade mal 12 Jahre nach dem blutigen Herbst von Kovin. Meine Eltern sind beide 1920 in eben diesem Kovin in der Vojvodina, unweit von Belgrad im heutigen Serbien geboren. Sie waren die Nachkommen von deutschstämmigen Siedlern, die zur Zeit der österreich-ungarischen Monarchie dort angesiedelt wurden, um das Land urbar zu machen. Das alles wusste ich nicht. Lange Zeit war ich der Meinung, sie seien lediglich abgeschoben worden. Abschiebelager ist zwar nicht lustig, aber auch nicht lebensgefährlich. Wo die väterliche Seite meiner Familie in dieser Zeit war, davon habe ich überhaupt keine Kenntnisse. Aber irgendetwas stimmt nicht in dieser Familie, das spürst du von klein auf ganz genau… Seither besteht mein Leben aus einer endlosen Kette von Versuchen aus diesem Teufelskreis herauszufinden und wie gesagt, gewusst habe ich zu diesem Zeitpunkt noch lange nichts. Leute, es ist höchste Zeit. Wir sollten endlich anfangen darüber zu reden. * dazu auch der Artikel von Götz Aly in der Berliner Zeitung vom 06.05.1999: http://www.berliner-zeitung.de/erinnerung-aus-gegebenem-anlass--der-voelkermord-an-den-jugoslawiendeutschen-1944-bis-1948-einmal-fuer-alle-zeiten-schluss-machen-16665728 – Anmerkung Forum Kriegsenkel
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Wie in einem Spinnennetz gefangen Als Kriegsenkel kam ich 1960 mit einem Zwillingsbruder als fast Fehlgeburt mit Notkaiserschnitt auf die Welt. Angst vor dem Tod und Angst vor Jungs begleiteten mich seit ich denken kann. Ausserdem war ich schon als kleines Kind für das ganze Familiensystem verantwortlich, war Schuld wenn mein Bruder hinfiel, meine Mutter wütend, mein Vater traurig war. Ich wollte immer gut sein und helfen. Si ta cuisses philosophus mansisses. Hättest du geschwiegen wärst du ein Philosoph geblieben, sagte mein Grossvater oft. Schweigen war angesagt. Die einzige Anerkennung war, perfekt in der Schule zu sein. Das nahm meine ganze Zeit in Anspruch. Die Angst vor Männern und Jungs wurde nur belächelt. Und so war ich die, die sich was zusammenspinnt. Es herrschte eine hohe aggressiv sexuelle Spannung in der Luft. Nach einem guten Abitur erfüllte ich den Familienauftrag, Ärztin zu werden, eigentlich wollte mein Grossvater und meine Mutter Ärztin werden. Ich war besessen davon ja keine Fehler zu machen, arbeitete bis zur Erschöpfung. Sogar am Wochenende versprach meine Mutter Nachbarn, dass ich immer da sei um zu helfen. Ich geriet immer wieder in sexuell und emotional missbräuchliche Beziehungen und bezahlte immer für die Männer, damit ich bleiben durfte. Erst mit 45 Jahren anlässlich einer Massage, wo der Masseur plötzlich zwischen den Beinen herumfummelte und hauchte, er würde meine Kundalini aktivieren und sich dabei selbst befriedigte, kam ein flash back. Ich fühlte mich ganz klein und hörte die Stimme eines Familienangehörigen, der sagte: Du bist böse und wenn du jetzt aufstehen willst und es jemand sagst bringe ich dich um. Auch der strafende Gott, der alles sieht, ist tief verinnerlicht. Es dauerte 2 Stunden bis ich in der Lage war aufzustehen. Danach war mir klar, dass etwas in meiner Kindheit geschehen war. Als ich meine Mutter fragte gab sie nur zu Antwort: Es sei normal dass Männer dies tun. Somit war ich wieder allein. Als ich in die Wechseljahre kam hatte ich plötzlich das Gefühl, das KZ stand in meinem Zimmer. Ich hörte Todesschreie und immer wieder, du bist böse. Wenn ich an Orte kam, die in der Nähe eines KZ lagen ohne dass ich es wusste, musste ich anfangen zu weinen. Ich habe seit 4 Jahren Alpträume, starke Rückenbeschwerden und andere heftige körperliche Beschwerden und kann nicht mehr arbeiten. Ich war immer nur für andere da. Jetzt heisst es, ich sei egozentrisch. Aber ich kann einfach nicht mehr. Mein Vater war bei der HJ und 5 Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft. Mein Opa war bei der NSDAP aktiv, wurde entnazifiziert und war mehrere Jahre im tschechischen KZ. Mein Leben lang habe ich nur gearbeitet und war für andere da. Es gibt einen Teil in mir, der nicht glücklich sein darf und sich böse wähnt und bestraft werden sollte. Das ich dies alles spüre liegt an meiner Hochsensitivität. Ich weiss, dass es die Täterintrojekte sind, aber es hilft mir nicht weiter. Es ist als lebte ich in dem morphogenetischen Feld meiner Ahnen wie in einem Spinnennetz gefangen. Auch die tätigen Psychotherapeuten und Psychiater kennen sich damit noch nicht wirklich gut aus. Wie lange ich noch durchhalte weiss ich nicht. Aber ich bin dankbar für dieses Forum. Es zeigt dass ich nicht verrückt bin. Ich kenne es nicht, sich geliebt zu fühlen. Oder liebevolle körperliche Zuwendung. Da ist nur Schmerz und eine tiefe Leere. Gleichzeitig empfinde ich tiefes Mitgefühl für alle in diesem Forum. Wenn ich die Kraft hätte, würde ich als Betroffene und Ärztin gerne zur Hilfe beitragen. Nachträglich möchte ich noch sagen, dass es trotz des Schmerzes wichtig ist das Vergangene zu vergeben bzw. sich für Vergebung zu öffnen, damit das Täter-Opferprinzip durchbrochen und geheilt werden kann. Ich weiss, es ist nicht leicht. Aber alle Täter waren wiederum Opfer von Tätern. Gleichzeitig ist es wichtig und notwendig, dass das, was geschehen ist, nicht verleugnet wird. Das ist ja letztendlich der Grund, dass es die Nachkommen tragen. Das was ist darf da sein und muss beim Namen genannt werden. Vergebung ist der nächste Schritt.
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Wo war die Liebe Geboren wurde ich 1969 als einziges Kind meiner strengen, bestimmenden Mutter und meines nie erwachsen gewordenen Vaters, der, wenn nicht auf Arbeit, eher ein Befehlsempfänger meiner Mutter war. Nachtrag Das Ganze hatte wohl den Ursprung bei meinem Großvater mütterlicherseits, vor dem wir alle Angst bzw. enormen Respekt hatten. Er regierte seine Familie mit harter Hand, war kalt und verletzend, Pünktlichkeit und Sauberkeit waren oberstes Gebot, Widerrede war zwecklos. Selbst Spielen oder Lesen waren verboten. Für ihn reine Zeitverschwendung. Je älter er wurde, umso weniger Freunde und Familie ließen sich blicken. Ich bezweifle, dass er überhaupt jemals Freunde hatte. Seine Frau und Kinder litten unter ihm, unterwarfen sich aber pflichtbewusst. Für ihn waren sie 'Klötze am Bein', die sich als Wiedergutmachung nützlich machen und seine Launen ertragen mussten. Wir Enkel wussten nicht um die Hintergründe, wohl bekamen wir die bedrückende Grundstimmung mit, sowie auch manchmal die gefürchteten Wutanfälle.
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Eulenruf In Gedenken an Iwan Szal (1911 - 1994) und Franz Gröschel (1905 - 1971) Auf der Zugfahrt von Shitomir nach Rowno, am 6. Oktober 1943, war es, dass sich die Landschaft um Franz herum zu leeren begann. Nach und nach verblassten die menschlichen Schemen, die sich einzeln oder in getriebenen Kolonnen entlang der Eisenbahnstrecke schleppten. Schloss Franz die Augen, durchstreiften höchstens noch der ein oder andere Bär oder ein Rudel Wölfe die weite ukrainische Ebene, glitt nur mehr vereinzelt der grauschwarze Schatten eines aufgestörten Nachtvogels über sie hinweg. In seinen wenigen wortkargen Schilderungen, ausgelöst durch seltene Momente, in denen die Neugierde einer Schwiegertochter oder eines Enkelkindes den üblichen Mantel des Schweigens abschüttelte, sich in einem unbefangenen Moment Bahn brechend, umriss er die Ukraine später genau so: Weite, Wölfe, Bären, Eulen. Mehr war da nicht. Etwa ein Jahr nach Kriegsende geschah es nur noch ein einziges und letztes Mal, dass Franz, der Maler, die Menschenleere seiner Bilder durchbrach - und dies nur, als wollte er die Abwesenheit von Menschen nachträglich erklären, den Hergang dazu erzählen: „Der Tod“, so nannten wir das düstere Gemälde, auf dem eine groteske Gestalt den gesichtslosen Zug der Menschheit und Menschlichkeit vor sich her trieb, einem weiß ummauerten Friedhof entgegen. Kaum merklich schloss sich Franz seit jener Zeit auch körperlich dem entschwindenden Menschenstrom an, ergänzte die Verlassenheit seiner Bilder zunehmend durch die Leere vor der Staffelei, brachte sein Stillleben zur Vollendung. Doch nun also: Stammlager Rowno. Zuvor hatte Franz, der kunstfertige Zeichner, im Rückraum der voran feuernden Ostfront Landkarten und Geländeskizzen gefertigt. Von Landstrichen, deren Kartierung nur vollzogen wurde, um sie systematischer in Massengräber und verbrannte Erde verwandeln zu können. Doch bald flutete die Front nicht mehr voraus, sondern zog sich wie die Brandung bei Ebbe immer weiter über verödeten Grund zurück. Karten des verlorenen Landes wurden nicht mehr benötigt - und Franz stattdessen dem Kommandeur der Kriegsgefangenen beim Wehrmachtsbefehlshaber Ukraine unterstellt. Es muss spätestens hier gewesen sein, wo - inmitten von Sadismus, Kannibalismus, Verzweiflung, Hungertod - Franz die Bedeutung von Kriegsgefangenschaft bewusst geworden war. Bei Franz‘ Ankunft am Bahnhof Rowno herrschte gespenstische Stille. Um der Massen an Häftlingen besser Herr zu werden, war das Lager soeben auf eine neue Brachfläche im Vorort Zytyn umgesiedelt worden. Die noch arbeitsfähigeren Insassen wurden nun - auch in Anbetracht der näher rückenden Roten Armee - verstärkt zur Zwangsarbeit in die deutschen Reichsgebiete deportiert. Herbstlicher Nebel verwischte alle Konturen und kroch klamm selbst durch die schmalsten Ritzen unter Franz‘ Ärmeln und Mantelkragen. Aus einer windgepeitschten Birke jenseits der Gleise drang jäh das stockende Rufen einer Eule. Verwirrt suchte Franz wieder den Anschluss an die Kameraden. Es war offensichtlich gewesen: der Gefangene war taub, kein Schuss, kein Gebrüll schien ihn erreicht zu haben. Und doch war der Ruf der Eule zu ihm durchgedrungen, Franz hatte es gesehen, er irrte sich nicht: sie waren sich in den dumpfen Heultönen begegnet, nur sie beide, wie in einer Blase aus Klang. Ungezählte menschenleere Bilder später, die meisten davon Stillleben oder ukrainische Landschaften festhaltend, die sich in den diversen Kellern unserer Familie in Schweigen hüllten, nahm Franz mich, den jüngsten Enkel, ein letztes Mal an der Hand und spazierte mit mir über die winterkahlen Felder jenseits unseres Dorfes. Bis zum fernen Waldessaum hin keine Menschenseele zu sehen, nur eine einsame Gestalt im graublauen Arbeitskittel, die geflickte Hose aus den verschmierten Schäften der Gummistiefel herausgerutscht: Ich mochte Iwan, den taubstummen Knecht des benachbarten Bauernhofes, wie Strandgut zurückgeblieben nach den Wirren des Krieges, die harte Fronarbeit der verbrannten Heimaterde vorziehend. Wie man einen Zaunpfahl auf dem ausgestreckten Zeigefinger balanciert. Wie man eine Weidenpfeife zurechtschnitzt, auf Grashalmen bläst. Und wie man durch die hohl zusammengelegten Hände den Ruf einer Eule hervorbringt. Nun hallten seine Hammerschläge weit über die verwaisten Viehweiden, wurden vom dichten Fichtenwald vielfältig zurückgeworfen und verwirbelten mit den erneuten Schlägen zu einem auf- und abschwellenden Rhythmus. Als ich aufsah, bemerkte ich, wie die beiden Männer sich erstarrt gegenüber standen. Langsam ließ Iwan seine Hände sinken. Mir wird kalt, Opa, stammelte ich, und zog ihn am Ärmel mit mir fort. Besucher der Nervenheilanstalt, in der Franz seine letzten Monate verbringen und sein Leben beschließen sollte, berichteten später, aus seinem, des „Uhus“, wie sie ihn dort schmunzelnd nannten, Zimmer drangen bis zuletzt diese merkwürdigen, eulenartigen Ruffolgen, ehe sie sich in den linoleumverkleideten Anstaltskorridoren verloren. Die Kurzgeschichte ist eine literarische Bearbeitung meiner Erinnerungen sowohl an den Großvater, als auch an einen ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiter aus unserem Dorf.
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Befreit? Seit meinem Eintrag „Befreiung“ vom Juli 2013 ist nun schon einige Zeit vergangen, doch das Vergangene lässt einfach nicht los. Zwischenzeitlich ist meine Mutter 90 Jahre alt geworden und hat meine Grußkarte und das Büchlein „Wir vom Jahrgang 1925“ mit dem Vermerk „Annahme verweigert“ zurückgeschickt. So gerne hätte ich eine Brücke der Begegnung gebaut, so sehnlich eine „positive Rückmeldung“ erwartet. Doch leider nur schweigen. Meine Mutter, geboren in Mühlhausen in Thüringen, ist 1938 nach Neuruppin in Brandenburg gezogen. Ihr Vater, mein Großvater, hatte dort als NSDAP-Mitglied ein Kaufhaus „arisiert“, das im Zuge des „totalen“ Krieges 1943 geschlossen wurde, worauf mein Großvater sich im Neuruppiner See das Leben nahm. Da war meine Mutter 17 Jahre alt. Nach der Wiedervereinigung wollte meine Mutter das „Erbe“ ihres Vaters antreten. Doch da waren das Vermögensgesetz und der Rückübertragungsanspruch der Nachfahren der jüdischen Vorbesitzer des Kaufhauses „dagegen“. Insoweit ist die Sache nicht in ihrem Interesse ausgegangen. Darüber habe ich mich mit meiner Mutter auseinandergelebt. So konnte ich auch nicht mehr mit ihr über Vergangenes sprechen, das mir immer und immer wieder in den Sinn kam, obwohl ich zu der Zeit noch gar nicht geboren war. Irgendwann habe ich dann angefangen, das aufzuschreiben, was mir über die vergangene Zeit und deren heutige Aufarbeitung wichtig war. Dabei bin ich auch auf das Forum Jugend in Deutschland 1918 bis 1945 gestoßen und habe viele Informationen bekommen, die zu immer neuen Fragen führten. Vor einem Jahr habe ich dann in der Garage meiner Eltern einen Pappkarton gefunden, in dem meine Mutter Briefe aus den Jahren 1942 bis 1960 aufbewahrt hatte. Das war eine wahre Fundgrube. Nachdem ich mich in die Sütterlinschrift eingelesen hatte, fügte ich das Gefundene in meine Aufzeichnungen ein und wurde immer neugieriger. Beim Bundearchiv erbat ich Auskunft über die NS-Vergangenheit meines Großvaters und bekam die Kopie der NSDAP-Mitgliederkarteikarte zugesandt. Auf dem Foto war mein Großvater in SA-Uniform abgebildet. Von dieser Zugehörigkeit hatte ich noch nichts gehört. Meine Mutter hatte mir davon auch nie etwas erzählt. In anderen Archiven fand ich Geschäftsunterlagen meines Großvaters, Hinweise auf das Schicksal der jüdischen Vorbesitzer des Kaufhauses in Neuruppin usw. Schließlich hatten meine Aufzeichnungen einen Umfang von fast 200 Seiten erlangt und ich überschrieb sie mit „Hundert Fragen an meine Mutter“. In schön gebundener Form liegen sie nun vor und könnten gelesen und mit mir besprochen werden. Doch leider ist niemand da, der mit mir mein Geschriebenes teilen oder mir eine Rückmeldung dazu geben möchte. Von meiner Mutter erwarte ich es nicht, obwohl das „unsere“ Geschichte ist. Meine Patentante, die Schulfreundin meiner Mutter, hat nach dem Erhalt des Buches das vereinbarte Treffen mit mir abgesagt. Meine Frau will oder kann nicht, meine Kinder sind wohl noch zu jung (18 und 17) oder schon zu weit weg und Freunden möchte ich mit dieser Geschichte nicht zu nahe treten. So bleibt bei mir ein Loch. Die Psychologin, die mich seit Jahren sporadisch auf meinem Weg begleitet, und der ich mein Anliegen vorgetragen und mein Buch vorgelegt hatte, äußerte zu meiner großen Überraschung, dass sie der Inhalt des Buches gar nichts angehe. Das sei die Geschichte meiner Mutter und die werde sie nicht mit mir besprechen. Außerdem empfinde sie das, was ich da getan habe, meiner Mutter gegenüber „übergriffig“. Gerne sei sie bereit, mit mir darüber zu sprechen, warum niemand mit mir mein Buch lesen möchte. Das war für mich harte Kost! Glücklicher Weise hatte ich kurz danach einen Termin bei einem Lehrpsychologen und Supervisor. Der hat sehr viel einfühlsamer reagiert, mein Buch sogar angeschaut und mir folgendes Bild mit auf den Weg gegeben: Das Schweigen der Generation der „Alten“ ist wie eine hohe Mauer. Da möchte niemand drüber schauen. Wenn doch geschaut werden müsse, dann so nach dem Motto: „Schau Du doch mal und wir gucken Dir dabei zu.“ Ich sei nun nicht nur auf die Leiter gestiegen und habe über die Mauer geschaut, sondern sei sogar über die Mauer geklettert und habe mir dort drüben alles angesehen. Das mache den Menschen Angst. Mit dem Psychologen habe ich dann in weiteren Sitzungen die wichtigsten Passagen meines Buches besprochen und somit zumindest eine professionelle Resonanz erfahren. Insoweit ist für uns Kriegsenkel das „Wegräumen der seelischen Trümmer“, die uns die „Alten“ hinterlassen haben, auch in der heutigen, aufgeklärten Zeit kein ganz einfaches Unterfangen.
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Meine Geschichte Meine Eltern waren beide Jahrgang 39, jung geheiratet um von zuhause weg zu kommen und jung zwei Kinder bekommen. Meine Mutter war Pflegekind bei ihrer Tante, da die eigene Mutter früh verstarb, den Vater hat sie nie kennengelernt. Vom Krieg hat sie wenig bis nichts mitbekommen.
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Erziehung zum Neutrum Ich bin 1960 geboren und nach der Definition von Sabine Bode sowohl ein Nachkriegskind (mein Vater war mit 17 Jahren im Krieg als Soldat), als auch ein Kriegsenkel (meine Mutter war bei Kriegsende 12 Jahre alt). Vieles, das Sie schreiben kann ich bestätigen. Zu diesem Abschnitt möchte ich noch eine Anmerkung machen: Erfahrung, dass man als Kind und Heranwachsende/r nicht in die Weiblichkeit oder Männlichkeit eingeführt wurde; Mädchen, die als Neutrum erzogen wurden. Dazu unser Erklärungsversuch: Es könnte sein, dass die Kriegserlebnisse die Eltern dahingehend geprägt haben, dass Männlichkeit und Weiblichkeit Gefahr bedeuten. Das „Erziehen“ als „Neutrum“ diente sozusagen unbewusst als Schutz für uns. (aus der Merkmalliste unserer Studie. Anm. ForumKriegsenkel) Das Gefühl als Neutrum erzogen worden zu sein hat mich lange begleitet. Eine Therapie (wg Raumangst) half mir ein positives Verhältnis zu meinem weiblichen Körper zu bekommen; in den Gesprächen spielte die Erziehung zum Neutrum allerdings keine Rolle. Ich hatte das „Neutrum“- Gefühl sogar vergessen, bis ich den oben stehenden Text gelesen habe. Ich hatte in der Vergangenheit nie den Eindruck, dass es dabei um meinen Schutz ging. Vielmehr um den meiner Eltern. Wenn ich keine Frau bin, dann werde ich nicht heiraten, keine Kinder haben etc., sprich als Gefährte (ähnlich der früheren Haustochter) meiner Eltern ewig da sein und für Schutz sorgen. Insofern stellen „Männlichkeit und Weiblichkeit“ (der Kinder) eine Gefahr für die Eltern dar. Zumindest sehe ich das so.
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Jahrgang 1964 – der 80. Geburtstag meines Vaters Mein Vater, Jahrgang 1935 feiert seinen 80. Geburtstag. Nur mit Mühen kann ich daran teilnehmen. Die grauen Schleier, die tiefe Bedrückung und Lähmung, die mich mein Leben lang überschatten, werden wieder mächtig. Mein Freund begleitet mich – alleine setze ich mich diesen Familientreffen nicht mehr aus.
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Ich war 24 Ich bin Jahrgang 1971, Kriegsenkel, größtenteils aufgewachsen im großelterlichen Eigenheim im Mansfelder Land. Das Thema zweiter Weltkrieg wurde von meinen Eltern (Jahrgang 1934) geschildert als ein Abenteuer, das es zu bestehen galt. Diese Erzählungen prägten mich so sehr, dass ich versuchte, als Zeitsoldat der Bundeswehr auch in den Krieg zu ziehen. Hier sind meine Gedanken zu diesem Thema.
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Bei uns war Krieg, zu Hause Bei uns war Krieg, zu Hause. Ich bin im Krieg aufgewachsen. Der Krieg war beständig präsent in meinem Leben, weil er in meinen Eltern präsent war. Dabei habe ich selber nie einen Krieg erlebt und trotzdem war ich im Krieg zu Hause. Das habe ich mein Leben lang eigentlich nicht verstanden. Wie kann mir etwas so gegenwärtig sein, dass ich doch eigentlich gar nicht kenne? Es war mir auch gar nicht bewusst, für mich war es mein Leben, ich kannte es nicht anders. Erst die letzten drei Jahre ist es mir bewusst geworden und dadurch konnte ich vieles besser verstehen.
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Ich bin Jahrgang 1970 Ich bin Jahrgang 1970, meine Schwester 1971 und meine Eltern Jahrgang 1950/51. Vor einem Jahr bin ich auf das Thema „Kriegsenkel“ gestoßen und nun fange ich langsam an, zu verstehen.
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Leider zu spät Seit einigen Jahren arbeite ich - nach einer eher naturwissenschaftlichen Karriere - mit Flüchtlingen in Australien. Durch meine enge Zusammenarbeit mit Psychologen und Counsellors kam ich zum ersten Mal mit dem Konzept des „transgenerational Trauma“ in Kontakt. Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einem meiner Klienten - ein Flüchtling des Genozids in Ruanda - der sehr besorgt um die „mental health“ seiner Kinder war. Ich habe mit ihm darüber gesprochen, wie eigene Kriegserfahrung als junger Mensch an seine Kinder weitergegeben werden kann und habe arrangiert, dass er einen unserer Counsellors trifft um mehr darüber zu erfahren und möglicherweise Strategien zu finden, damit besser umzugehen.
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Das Denkarium Diesen Text habe ich im vergangenen Jahr geschrieben, doch erst vor einem Monat bin ich auf das Thema Kriegsenkel aufmerksam geworden. Ich habe kein einziges Wort im Nachhinein verändert und finde es frappierend, wie sehr ich in dieses „Raster“ passe. Das gibt mir eine gewisse Bestätigung, befreit mich aber leider nicht von meiner großen Wut... auf wen eigentlich...? Nun der Text:
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Meine Geschichte als Kriegsenkel Gestern besuchte ich eine örtliche Bäckerei, in der täglich ein Mann Ende 50 herumsitzt und Kontakt sucht. Er wollte etwas loswerden über die frühere Elterngeneration: Sie hätten 1 bis 2 Lieblingskinder gehabt. Den Rest hätten sie verprügelt. Im vergangenen Jahr glaubte ich einen Erklärung für das Verhalten meiner Mutter gefunden zu haben, weil ich mich mit dem Thema Asperger Autismus beschäftigte. Sie ist teilnahmslos, macht einfach ihr Ding, Pauschalreisen nach Ägypten, sterile, praktische Einrichtung (keine Pflanzen oder Deko…), hat ihren Tagesplan, den sie nicht ändern will. Z.B. wollte sie uns nicht ihr Auto leihen, als wir in Not waren, da sie es in ihrer Garage stehen haben will. Es gibt keine Flexibilität, Spontanität oder Kreativität. Ich habe das Gefühl, sie nimmt andere Bedürfnisse gar nicht wahr oder empfindet sie als störend. Meine Mutter war das letzte und dritte Kind, geboren 1938. Ihr Vater fiel 1940. Sie lebte fortan mit ihren Geschwistern, Mutter und Großmutter in einfachen Verhältnissen auf dem Land. Die Geschwister heirateten früh, so dass sie in den Genuss kam, 10 Jahre alleine mit meiner Oma zu leben. Diese Zeit, so sagt sie, war die Schönste ihres Lebens! Kurzum, ich war ein einsames Kind. Danach lebte ich nicht mehr Zuhause sondern in ein paar unheilvollen Beziehungen. Ich hatte keinen Hafen, wo ich hinkonnte, wenn es mir schlecht ging. Ich konnte meine Eltern nicht belasten. Gesprochen habe ich wenn dann nur mit meiner Mutter, aber die sagte dann, sie könne davon nicht schlafen, also hab ichs gelassen.
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Eine
Zeit, die für die Kinder des Krieges in der Tat nicht
leicht war. Zeit der Orientierung, des Neuanfangs und der
ständigen Auseinandersetzung mit radikalen Umstrukturierungen
in vielen Bereichen! Die
Geburtsdaten meiner Eltern: Mutter 1923, Vater 1918. Also
kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich ein Nachkömmling
war; so wie mein Bruder vorher schon, der 1956 das Licht der
Welt erblickte und damit schon einen geraumen Abstand (körperlich
wie auch emotional) zu mir hatte. Meine Gefühle zu der Zeit damals, die ich heute noch nachempfinden kann und mich begleiten: - Angst vorm Alleinsein, ...denn meine Geschwister waren schon so weit weg und halfen mir nicht. - Angst vorm ungeliebt sein, ...denn ich suchte ständig nach Aufmerksamkeit und löste damit kleine Katastrophen aus. - Angst vorm Verlassen werden, ...denn ich sorgte mich unbewusst ständig um das Wohl meiner Eltern, obwohl sie sehr streng waren. - Angst vor meiner Mutter, ...denn sie strafte häufig und sehr schmerzhaft. - Angst vor meinem Vater, ...denn er musste umsetzen, was Mutter ihm berichtete/mir androhte. Wenn
ich heute so zurückschaue und mir viel Zeit dafür
nehme, dann tauchen viele Begebenheiten plötzlich wieder
auf, die mein Unverständnis schüren und die Reaktionen
meiner Eltern auf mein Verhalten für mich nicht wirklich
erklären lassen. Es
ist ein Rest geblieben und ich arbeite daran, aber es ist
nicht leicht. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass
ich meinen Eltern nichts vorwerfen möchte; sie hatten
auch ihr Päckchen zu tragen, aber ich distanziere mich
immer weiter von ihnen, insbesondere von meiner Mutter.
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Neuer Beitrag Ach,
wie tröstlich ist es, sich einer Familie anschließen
zu können, die sich zwar nicht persönlich begegnet
ist, sich aber möglicherweise besser kennt als den jeweils
eigenen Freundeskreis! Als Kind hatte ich die Vision, die
alten Grenzen Deutschlands wieder herstellen zu können,
wenn ich mich vor dem Brandenburger Tor dafür opferte,
Selbstverbrennung schwebte mir vor. Dann wäre Omi wieder
glücklich und die Familie könnte zurück in
die Heimat. Omi sprach nicht, sie zeigte irgendwie die Trauer,
ohne dass ich mich schuldig fühlte, bei Mutti fühlte
ich mich schuldig. Keine emotionale Nähe zur Mutter,
wie bekannt mir das vorkommt. Mich und meine Bedürfnisse
nicht wahrnehmen dürfen, wie gut zu lesen, dass es anderen
auch so geht. Heimatlos sein – genau. Ich habe immer
weinen müssen, wenn ich von Polen oder Pommern gesprochen
habe, bis in die jüngste Vergangenheit. Dann habe ich
ein Buch geschrieben und meine Gefühle, meine Bindungsprobleme,
die ganze Verstrickung einfließen lassen. Das hat mir
geholfen.
***
Martin Schiffel (*1966): Die seelischen Trümmer (nach den bionischen Kriegen), 2012
***
Emotionales Vakuum mit
Erleichterung bin ich auf dieses Forum gestoßen und
möchte auch meine Lebensgeschichte erzählen. Mein Vater wurde mit 16 Jahren
eingezogen, wurde Flakhelfer. Am Ende des Krieges wurde er
gefangen genommen und verbrachte zwei Jahre in einem Kriegsgefangenenlager
im europäischen Ausland. Anschließend wurde er
als Zwangsarbeiter bei Bauern eingesetzt. Mit 21 Jahren kehrte
er zurück. Meine Eltern waren freundliche Menschen aber emotional nicht zugänglich, insbesondere nicht für kindliche Not. Weinende Kinder waren eine Bedrohung. „Was ist denn mit Dir los? Stell Dich nicht so an!“ Meine Kindheit habe ich in Schwere verbracht, ein bleiernes Vakuum schien uns zu umgeben. Ich wurde depressiv, begann, mich zu hassen, hielt mich für die Ursache der Schwere. Mit 16 Jahren beging ich einen Selbstmordversuch, den meine Eltern als „jugendlichen Blödsinn“ einstuften. Undenkbar, dass echte Not dahinter stecken könnte. Mit Ende 20 begann ich wegen starker sozialer Ängste Therapie, die mir sehr half. Es folgte eine stabile Phase mit Familiengründung, beruflichem Erfolg. Im Jahr 2011 schließlich erlitt ich einen burn out und wurde von Erinnerungen aus der Kindheit überflutet. Ich verließ die Psychiatrie mit der Diagnose „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“, bin derzeit berufsunfähig und versuche, gesund zu werden. In der Therapie wird deutlich, dass ein Deckel auf der Familie lag. Angst durfte man nicht haben. Meine Eltern erzählten zwar von ihrer Kriegskindheit, aber ohne jede emotionale Beteiligung. Und es scheint so zu sein,
als sei es mein Part, die Angst, die meine Eltern verdrängen
mussten, das Entsetzen vor dem unsagbar Bösen, in dem
ihre kindliche Welt versank, zu fühlen und zu überwinden.
Die seelischen Trümmer habe ich wegzuräumen. Das
Trauma ist bei mir gelandet und vielleicht auch bei meinen
Kindern. ***
Befreiung So viele schöne Texte, so viele Ähnlichkeiten, so viel Leid und doch so viel Zuversicht! Bin Jahrgang 1958, geboren in Berlin (West). Habe in den letzten Jahren mehrere „Brüche“ in meiner Biographie gehabt. Zweimal aus dem Job geschmissen, mühsam wieder auf die Füße gefallen. Habe trotz jahrelanger Psychotherapie und „Werkstatt Psychologie“ nicht das Gefühl gehabt, beim Ursprung meiner Störung angekommen zu sein. Irgendwann habe ich mir dann gedacht, Du bist einfach „spinnert“. Dauernd NS-Vergangenheit nacherleben wollen, in deutschen Städten nach Einschusslöchern in Fassaden, Luftschutzbunkern oder kriegszerstörten Baulücken Ausschau halten, hatte mir noch vor wenigen Monaten mehrere Hefte „Der Landser“ gekauft! Die letzten hatte ich als Kind gelesen. War immer wieder fasziniert von Berichten über die NS-Zeit. Hab oft auf Wikipedia ganze Schlachten von der Ostfront nachgelesen. Wünschte mir so sehr, dass das nun fast 70 Jahre nach dem Krieg endlich einmal aufhören würde. Habe dann nach und nach an Lebenskraft verloren. Mehrmals stand ich ohnmächtig vor mir und wollte einfach nicht mehr weiter. Doch so von einer Eisenbahnbrücke springen, konnte ich dann doch nicht. Bin in letzter Zeit immer anfälliger für Krankheiten geworden. Vor allem die innere Anspannung mit krampfartigen Bauchschmerzen, den total verspannten Schultern und vielen Erkältungen haben mich richtig ausgezehrt. Wenn ich dann manchmal nachts wegen der Bauchkrämpfe in der Notaufnahme endlich am Tropf der Schmerzmittel hing, ging es mir schlagartig wieder gut. Kaum war die Nadel in der Vene, entspannte sich alles. Der Arzt sprach schon mal von einer Wunderheilung. Organisch war ja nie was festzustellen. Wo kommt das alles nur her? Leider fand ich auch keinen Anknüpfungspunkt mehr für Tränen. Auch wenn ich wieder einmal mit dem Leben und mir haderte, Tränen wollten einfach nicht fließen. Entspannung wollte sich nicht einstellen. Bis vorgestern! Da
war ich mal wieder erkältungskrank und zu Hause. Auf
der Internetseite der ARD fiel mein Blick zufällig auf
eine vergangene Sendung vom Kulturradio RBB. „Ich gegen
mich – der heimliche Krieg gegen sich selbst“.
Das sprach mich an. Schon bei den ersten Aussagen im Intro
hatte ich das Gefühl, dass jedes Wort auf mich passte.
Von meinem Sohn ließ ich mir die Sendung im mp3 Format
auf den Rechner runterladen und „besitze“ so nun
den Inhalt. Er kann mir nicht mehr wegfliegen! In der Sendung
hörte ich gegen Ende etwas von einem offenen Erzählcafe
für Kinder von Kriegskindern. Bei dem Begriff „Kriegsenkel“
wurde ich sofort hellhörig. Ich hatte zwar vor einiger
Zeit das Buch von Sabine Bode „Die vergessene Generation“
über die Kriegskinder gelesen, mich darin aber nicht
richtig wiedergefunden. Insoweit war ich wie elektrisiert,
dass das Thema Kinder der Kriegskinder tatsächlich existierte.
Ziemlich schnell war ich dann beim „Forumkriegsenkel“
gelandet und schon bei den ersten Lebensgeschichten waren
sie dann endlich da, die Tränen. Ich heulte so befreit
und erlöst und bekam unmittelbar wieder Lebenskraft.
Manch eine Lebensgeschichte war so ganz die meine, und den
Text von „Ambiguous loss“ hätte genauso ich
schreiben können!
***
Der Krieg und seine Enkel Alles,
was ich bisher bei Ihnen gelesen habe, kann auch ich 100%
nachempfinden. Dieses „Repetieren von Geschehenem“,
die Reinszenierung von Flucht, immer wieder bei „null
anfangen“, häufig Umzüge, ich bin innerhalb
von 10 Jahren 12 mal umgezogen. Es ist wie eine Sucht. Immer
wieder neu anfangen, nur nicht ankommen, sich nur nicht „schuldig“
machen, an der vorherigen Generation.
***
Stefan Kraft (*1966): ohne Titel (Ich soll...), 1993
***
Ein Satz mit fatalen Folgen Als Kind und Jugendliche habe ich von der Kriegs- und Kriegskinder-Generation immer wieder folgenden Satz zu hören bekommen: „Stell dich nicht so an, dir geht es doch gut!“ Viele werden diesen Satz in ähnlicher Form und Abwandlung kennen. Den Satz „Stell dich nicht so an, dir geht es doch gut!“ habe ich inhaliert, er brannte sich ein, mit ihm bin ich aus dem Elternhaus ins Erwachsenenleben getreten. Mehr
als 15 Jahre lang habe ich mich seitdem selber vernachlässigt,
um anderen, denen es vermeintlich „schlechter“
ging als mir - der es doch „gut“ ging - zu helfen.
Bin über meine körperlichen und psychischen Grenzen
gegangen, habe viel zu oft noch einen mitgetrunken, wenn der
andere es so wollte, habe Kisten für andere geschleppt,
obwohl ich Rückenschmerzen hatte, habe zugehört,
obwohl ich hundemüde war. „Stell dich nicht so
an, dir geht es doch gut!“ Ich habe mich dann immer
gewundert, warum ich mit einem Mal völlig ausgelaugt
im Bett lag, nicht mehr aufstehen konnte, völlig fertig
war mit der Welt. ***
Ambiguous loss Ich
habe den Kontakt abgebrochen, nachdem meine Mutter auf meine
Mail in mehreren Kontaktversuchen auch nicht entfernt eine
angemessene Antwort gefunden hat, die einen Dialog zwischen
uns möglich machen würde. Sie will einfach nur ihre
emotionelle Versorgung wiederhaben, beziehungsweise bestätigt
bekommen, dass sie als Mutter nicht gescheitert ist. An mir
als Person liegt ihr nicht das Geringste. Diese Situation
ist bei weitem nicht so einfach auszuhalten, wie es sich anhört
– sie entspricht eher dem, was die Psychologin Pauline
Boss als „ambiguous loss“ bezeichnet. Es gibt
Phasen, in denen ich jede Nacht von meiner Mutter träume.
Aber ich weiss genau, dass Kontakt mit meiner Mutter kein
Mittel gegen meine Wut und Trauer ist, sondern mich nur wieder
in den alten Kreislauf von Missbrauch und emotioneller Ausbeutung
hineinziehen würde. Und ich empfinde heute, dass ich
es dem verängstigten, vereinsamten Kind in mir schuldig
bin, es vor diesen Erfahrungen zu beschützen. Meine Mutter
schreit mich bis heute in den geringsten Stresssituationen
besinnungslos nieder. Ich habe lange gebraucht, um nicht nur
zu begreifen, sondern wirklich zu empfinden, dass das kein
akzeptables Verhalten ist und ich nicht verpflichtet bin,
mich dem auszusetzen.
***
Wer hinfällt wird erschossen. Schon
seit vielen Jahren begleitet mich besonders im Berufsleben
aber auch im privaten Alltag eine große Versagensangst.
Bei jedem vermeintlichen Fehler, bei jeder Schwäche denke
ich gleich: „Jetzt ist alles aus.“ Nach Feierabend
bin ich oft fix und alle, nicht in erster Linie wegen der
Arbeit, sondern wegen der Angst, die mich den ganzen Tag begleitet
und mich mürbe macht. Ich habe das Gefühl mich auf
einem Todesmarsch zu befinden, wo jeder Fehltritt jedes Fehlverhalten
schwerste Konsequenzen nach sich ziehen kann. Der Satz: „Wer
hinfällt wird erschossen,“ ist dabei immer wieder
in meinem Kopf. Das verstehe ich nicht, denn ich kenne Todesmärsche
nur in Zusammenhang mit Judenverfolgungen. Was für einen
Sinn macht das? Was soll das mit mir zu tun haben? In belastenden
Situationen, besonders wenn fremde Menschen eine Entscheidung
über mich treffen, eine Prüfungssituation, oder
z.B. kürzlich das Erscheinen zu einem ärztlichen
Gutachten wegen der Erwerbsminderungsrente, da habe ich eine
Angst als ginge es um mein Leben, als wäre in dem Raum
vor dem ich warte ein Typ mit einer Knarre und wenn ich etwas
falsches sage oder tue werde ich ohne Federlesens erschossen.
Ich verstehe diese Ängste einfach nicht, sie belasten
mich immer wieder sehr. „Gutachten
über das Schicksal von Klara …...geb. 1918 Das Ergebnis aller Nachforschungen führte zu dem Schluss, dass Klara …. mit hoher Wahrscheinlichkeit nach der Festnahme in der ersten Zeit der Gefangenschaft verstorben ist, noch bevor eine namentliche Registrierung erfolgen konnte.“ Das
bedeutet, dass sie nicht in einem Lager starb, sondern irgendwo
unterwegs. Endlich macht dieser Satz für mich einen Sinn:
„Wer hinfällt wird erschossen.“ Etwas Falsches
zu sagen oder zu tun, oder einfach nur Schwäche zu zeigen
konnte damals den Tod bedeuten. Nachtrag:
***
Stefan Kraft (*1966): aus der Serie Kindheit, 1993
***
1964 geboren 1964
geboren - 2012 - mit 47 Jahren - inmitten meiner langen Wanderung
durch Landschaften von Tiefen- und Traumatherapie begegnet
mir plötzlich der Ausdruck „Kriegsenkel“.
***
Nicht meine Schuld Ich
habe so viele Jahre geglaubt, dass es meine Schuld ist, was
mir in meiner Kindheit zugestoßen ist (Jahrgang 1967).
Jetzt versuche ich zu verstehen, dass ich nur bedingt etwas
dafür kann und meine Depressionen, Minderwertigkeitsgefühle,
Probleme in Beziehungen und noch vieles mehr auf den Erfahrungen
aus dieser Zeit beruhen und nicht alleine meine Schuld sind. Meine Kindheit ist geprägt von unkontrollierten Wutausbrüchen meines Vaters. Wüste Beschimpfungen, Schläge, komplettes Ignorieren meiner Person wegen Kleinigkeiten für Wochen. Ich bin morgens aus dem Haus gegangen und hatte Angst nach Hause zu kommen, weil ich nicht wusste, ob mein Vater mit wutverzerrtem Gesicht auf mich wartet und eine Strafe ansteht. Nach einigen halbwegs entspannten Jahren, in denen meine Kinder auch einen Opa hatten, ist der Kontakt seit einigen Monaten wieder abgebrochen. Ich hatte bei einem Besuch gewagt, meinem Vater zu widersprechen. Es ging um das Datum, an dem ich meinen Führerschein gemacht habe. Und ich vermisse ihn nicht. Eigentlich geht es mir besser. Keine Pflichtanrufe (er wohnt 600 km entfernt), keine sinnlosen Gespräche über das Wetter, weil er sich nicht für mein Leben interessiert. Ich habe sowieso alles falsch gemacht in seinen Augen. Weil ich andere Interessen habe und andere Prioritäten habe als er. Weil ich arbeite, meine Kinder zu selbständigen und selbstbewussten Menschen erziehe und mit ihnen diskutiere. Weil ich nicht erwarte, dass sie meine Meinung als die einzig Wahre anerkennen. Ich
bin sehr froh zu wissen, dass andere mit ähnlichen Problemen
zu kämpfen haben. Und das ich in dem, was ich tue und
wie ich es tue normal bin. Jetzt muss ich noch die Selbstzweifel
und Depressionen bekämpfen. Und vielleicht den Rest meines
Lebens mit der Gewissheit verbringen, dass ich etwas wert
bin und wert bin, mich zu mögen und von anderen gemocht
zu werden. ***
Lebensgeschichten Dass meine Mutter eine Vertriebene ist und als Kind mit ihrer Familie fliehen musste vor den Russen, wusste ich schon lange. Manchmal erzählte sie von den Erlebnissen, der Zeit im Wald Ende Februar 1945, der Gott sei Dank nicht so kalt war, oder der Flucht selber, wo sie wieder einmal aus dem Dorf vertrieben wurden, gar nicht mehr so viel mitnahmen, weil sie immer wieder zurück kamen – nur dieses Mal nicht mehr, dem Erlebnis an der Neiße, wo sie ihre Schubkarre da lassen sollten und sie schrie, weshalb sie die Schubkarre doch mitnehmen konnten, oder dass sie und ihre Schwester ihren Vater vor den Russen beschützten, indem sie sich an seine Arme klammerten und schrien, sodass die Russen ihn nicht mitnahmen, von den Vergewaltigungen, die sie andeutete und von der auch ihre älteste Schwester betroffen war (Jg. 1930)… Wenn meine Mutter so davon erzählte, sagte ich irgendwann immer, dass schließlich die Deutschen den Krieg angefangen hätten und selber Schuld seien – weil ich es so in der Schule in der DDR vermittelt bekam und glaubte. In den letzten Jahren, ich bin jetzt 43, realisiere ich erst, was es für die Menschen damals wirklich bedeutet haben muss und gerade auch für die Kinder – heute, wo ich selber Kinder habe im Alter meiner Eltern damals (beide Jahrgang 1935) und ich im Alter meiner Großeltern bin (Jahrgang 1901 und 1906). – Väterlicherseits gab es zwar weder Flucht noch Vertreibung aber mein Großvater wurde ein paar Tage vor Kriegsende von einem russischen Soldaten erschossen, da er keinen Schnaps rausgeben wollte aus seinem Geschäft. Auf dem Weg zum Kommandanten, wo er sich beschweren wollte, wurde er erschossen. Was muss das für die Familie bedeutet haben? Mein Vater erzählte auch von einem Zwangsarbeiter, ein junger Mann aus Frankreich, dem Jean (deutsch ausgesprochen, also Je-An). Ich denke viel darüber nach, was damals wirklich alles gelaufen ist. Mein Opa war in der NSDAP, er hatte einen Zwangsarbeiter – war das alles normal? Vor ca. 9 Jahren, nachdem mein Vater plötzlich starb, kam ich in eine ziemliche Krise. Ein Jahr später, als es immer schlimmer wurde, begab ich mich in Beratungsgespräche, um zu orten, was los ist in meinem Leben. Aber alles war so diffus. Der Berater schien irgendwie auch überfordert. Irgendwann sagte er, er würde aus mir nicht schlau. Aber ich lernte in dieser Zeit, mich selber wahrzunehmen und darüber zu reden. In meiner Familie sprach man nicht darüber, wie es einem geht. Es ging einem eigentlich immer gut – zumindest wurde das erwartet. Uns sollte es doch besser gehen, als meinen Eltern. In letzter Zeit kam mir wieder eine Situation in den Sinn, dass ich nach dem Baden als Kind mich in das Badetuch einhüllte und mir vorstellte, irgendwo allein zu sein, wie die armen Kinder im Kapitalismus und mich bemitleidete. Ich war einfach einsam in meiner Familie. Als Jugendlicher hatte ich immer wieder Zeiten, wo ich am liebsten Schluss machen wollte. Manchmal frage ich mich, was meine Eltern wohl dazu sagen würden, wenn sie gewusst hätten, was in mir wirklich vorging. Es wirkte alles etwas steril, gefühllos, es musste alles einfach laufen, man musste einfach funktionieren, dann war alles gut. - Als mein Bruder und ich uns mal unterhielten über die Probleme, die wir in der Schule hatten als Teenager, sagte meine Mutter nur, dass wir in unserem Alter doch noch keine Probleme hätten. Klar, im Vergleich mit dem, was sie erlebt hatte, waren das nur Peanuts. Merkwürdigerweise habe ich einige Bilder vor Augen und nehme die Stimmungen war, obwohl ich nicht dabei war, wie von dem Tag, als mein Großvater erschossen wurde. Ich weiß, dass es nicht das originale Bild ist, das Hoftor z.B. sah damals anders aus, aber ich weiß, dass es der Tag ist und ich frage mich, wieso mich das nicht loslässt. Auch habe ich ein Bild vor Augen von dem Friedhof meiner Großeltern mütterlicherseits, dass es so nicht gibt. Die Gräber liegen ruhig und friedlich im Sonnenschein. Aber ich suche die wahre Bedeutung des Bildes. Unweit des Friedhofs führt nämlich die Autobahn vorbei, auf der die Flüchtlinge damals in Richtung Westen zogen und diese ist heute stark befahren. Als vor einem Jahr meine Mutter und ihre Schwestern sich dort trafen auf diesem Friedhof zu den Todestagen meiner Großeltern, die dicht beieinander liegen, ging es nur um dieses Thema. Eine Tante fragte, ob es ihnen auch so ginge, wenn sie nachts nicht schlafen könnten, dass sie dann an die Heimat denken müssten. Es fiel das Stichwort „Flüchtlinge“, was diese Tante monierte, sie wären keine Flüchtlinge sondern Vertriebene, das wäre ein Unterschied. Das Treffen dauerte etwa eine halbe Stunde, aber das Gespräch ging nur um dieses eine Thema. Das fand ich sehr interessant, wie einschneidend und verändernd und bestimmend das für sie ist. Kürzlich
dachte ich auf der Autofahrt morgens darüber nach, was
mein Vater nach dem Krieg so alles erlebt hat, dass er sich
so zurückgezogen hatte. Und ebenso ein Bekannter von
ihm. Und dann wunderte ich mich darüber, dass ich darüber
nachdachte. Im
letzten Sommer besuchte ich eine mehrtägige christliche
Veranstaltung in Lüdenscheid. Dorthin wurden Verwandte
meiner Mutter vertrieben und liegen nun dort begraben. Vor
einigen Jahren hatte ich dieses Dorf bereits besucht, um mal
zu schauen, wie es dort so aussieht und wo meine Verwandten
gewohnt haben. In einer Mittagspause nun hatte ich den Wunsch,
auf den Friedhof zu fahren und die Gräber zu suchen.
Also machte ich mich auf den Weg und fand fast sofort die
Gräber, scheinbar intuitiv. Unglaublicherweise heulte
ich dort fast wie ein Schlosshund, obwohl ich diese Leute
nie selber kennen gelernt habe. Sie schickten uns oft Pakete
zu Weihnachten. Nachdem ich die Gräber kurz darauf nochmals
besucht habe, habe ich Frieden darüber. ***
Die Tochter eines Flüchtlingskindes aus Ostpreußen erzählt Die Familie meiner Mutter hat zweimal „bei Null wieder angefangen“. Nach der Flucht im Januar 1945 aus Ostpreußen nach Sachsen, und als sie 11 Jahre später "nach dem Westen" gingen, lebten sie viele Jahre unter sehr einfachen Bedingungen, froh überhaupt eine Bleibe zu haben. Erst 1962 nach vielen Wohnungs- und Wohnortswechseln hatten sie wieder die erste „schöne“ Wohnung, wie meine Oma in ihren Memoiren schrieb. Ich selbst bringe es inzwischen auf über 20 verschiedene Wohnsitze, wenn ich kürzere Aufenthalte wie Zwischenmieten und Unterbringungen während Praktika mitzähle. Meine Bleiben waren meist sehr bescheiden, ich fand es gut, mit wenig auskommen zu können. Zeitweise wohnte ich zusammen mit hässlichen muffigen fremden Möbeln, Kakerlaken und Schimmel. Mit Mitte 20 kam ich auf den „Selbstversorgertrip“. Ich wollte unbedingt wissen, wie autonom man im modernen Deutschland leben könnte. Unter anderem lebte ich eine Zeit lang auf einem Biohof in Alleinlage ohne Strom, ohne fließendes Wasser und mit Plumpsklo, in einem Bauwagen mit Holzheizung und schlechter Isolierung. Erst mit 31 Jahren hatte ich meine erste richtige eigene Wohnung – wenn auch mit recht veraltetem Wohnstandard. Mehrmals habe ich Wohnort und Arbeit gewechselt, habe woanders „bei Null wieder angefangen“. Habe mich weder an Menschen, noch an eine Region dauerhaft gebunden. Seit ich 26 bin, lebe ich ganz bewusst auf dem Lande, da ich es dort als sicherer empfinde als in der Stadt. Im Hinterkopf ist der Gedanke „Wenn wieder schlechte Zeiten kommen, ist man hier besser aufgehoben. Man wird wahrscheinlich zu essen haben, und Kampfhandlungen konzentrieren sich eher auf Städte.“ Zudem arbeite ich seit vielen Jahren in landwirtschaftlichen Bereichen – denn Nahrung brauchen die Menschen immer, eine krisenfeste Branche sozusagen. Im Zweifelsfall ist ein Kilo Kartoffeln mehr wert als ein goldener Ring. Ich werde zu essen haben, und das beruhigt mich. Wenn
ich so zurückblicke, denke ich, was mich immer weiter
getrieben hat, war die Suche nach „meinem Platz“
im Leben, einem sicheren Platz vor allem. Schon als Kind hatte
ich das Gefühl, nicht am rechten Platz zu sein. Das hatte
wohl auch sehr mit meinem Elternhaus zu tun. Meine Eltern
lebten miteinander im Kriegszustand. Ich litt unter einem
Mangel an Sicherheit und Geborgenheit. Aber jetzt denke ich,
dass auch die Familiengeschichte Teil der Ursache war. Vor
vier Jahren erlitt ich einen Burnout. Nachdem ich bereits
drei Jahre nur noch mit Mühe einigermaßen funktioniert
hatte, war es eines Tages so weit, ich war total am Ende und
brach zusammen. Von einem Tag auf den anderen war ich eines
beträchtlichen Teils meiner Fähigkeiten beraubt.
Ich musste Freundinnen und Familie um Hilfe bitten. Selbst
mir einen Tee zu bereiten oder ein Telefonat zu führen,
gelang mir in manchen Augenblicken nicht mehr. Schnell war
mir jedoch klar, dass meine momentane Arbeitsbelastung lediglich
das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, die tatsächliche
Ursache jedoch in der Summe der Belastung in meinem gesamten
Leben, seit meiner Kindheit zu suchen war. Leichter war es
demnach, Stress zu reduzieren, der in aktuellen äußeren
Faktoren begründet lag. Aber wie reduziert man Belastungen,
die in einem sind, die aus dem Inneren, aus mir selbst kommen?
Diesem inneren Stress auf die Schliche zu kommen hat mich
gezwungenermaßen in den letzten vier Jahren stark beschäftigt.
Stück für Stück wurde ich fündig, was
genau in meinem Leben zu diesem Zusammenbruch geführt
hatte. Doch für einen Großteil meiner Ängste,
die mich innerlich stressten und mir die Lebenskraft raubten,
fand ich keine Erklärung in meiner eigenen Biografie.
Heute weiß ich, dass die transgenerational weitergegebenen
Lebensängste meiner Mutter und Großmutter einen
Großteil davon ausmachen. Beide kenne ich hauptsächlich
im Zustand von Stress, Aufregung und Angst. Kein Wunder, dass
ich das verinnerlicht habe, wo es mir doch ständig vorgelebt
wurde. Die Bücher über Kriegsenkel nahm ich übrigens jetzt zum Anlass einmal nachzurechnen, wie alt genau meine Oma zum Zeitpunkt der Flucht war: genau 38 Jahre und 8 Monate. Als ich meinen Burnout hatte, war ich 38 Jahre und 9 Monate alt. Damals schrieb ich so eine Art Gedicht, um auszudrücken, wie sich dieser Zusammenbruch für mich anfühlt. Es lautete: ich
bin außer mir Nun fiel mir dieser Text wieder ein. Ich las ihn nochmal durch, um dann erstaunt zu bemerken, dass dies eigentlich ein Text über den Krieg ist. Gegen das, was meine Mutter und Großeltern durchgemacht haben, ist so ein Burnout wohl lediglich ein kleiner Schnupfen, trotzdem will ich hier einige Parallelen ziehen. Beides stellt einen äußerst starken Bruch im Leben dar, nach dem nichts mehr so ist wie vorher. Ich habe durch diese Erkrankung einen deutlichen sozialen Abstieg erlebt. Teile meines sozialen Umfelds fielen weg. Einige meiner früheren Fähigkeiten und daher auch Möglichkeiten sind – vorerst – nicht mehr vorhanden. Ich musste für vieles neue Wege finden. Mich zurechtfinden in einer veränderten Welt. Darüber weinen nützt nicht viel. Man muss nach vorne schauen und das Beste daraus machen. Das habe ich von meiner Mutter gelernt. Überhaupt ist mir jetzt klar, welche Kraft auch in meiner Familiengeschichte liegt. Meine Familie hat in ihrem Leben viele Ängste ausgestanden, vielen Gefahren getrotzt. Sie hat immer wieder richtig gehandelt, den richtigen Riecher gehabt und das Leben in die eigene Hand genommen. So ist ihre Geschichte nicht zuletzt auch eine Erfolgsgeschichte. Mich damit auseinanderzusetzen hat mich ein Stück weit näher zu mir selbst gebracht, und das fühlt sich gut an. Vielleicht liegt die Heimat, die ich so verzweifelt suche, letztendlich doch ganz nahe - nämlich in mir. So
wie mir die Berichte anderer Betroffener geholfen haben, hoffe
ich, dass der Eine oder Andere durch meine Geschichte eine
Bereicherung erfährt.
***
Ein
Gespräch mit Anna. Heimatlosigkeit in der zweiten Generation
Ja natürlich, ich kann etwas über den Inhalt des Buches sagen, sachlich ist das ganz einfach. Anna richtet sich auf, konzentriert sich, und spricht gefasst: Das Buch handelt über eine Generation in Deutschland, die zwischen 1960 und 1970 geboren wurde und deren Eltern im Zweiten Weltkrieg Kinder waren. Die Elterngeneration nennt die Autorin „Kriegskinder“ und die Kindergeneration, über die das Buch handelt, „Kriegsenkel“. Übertragen lassen sich die dargestellten Phänomene auf jedes Land und jede Zeit – Grundlage ist die Konstellation. Erst in den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass es nicht nur nicht aufgearbeitete traumatische Erlebnisse von Kriegsteilnehmern in jeder Altersklasse gibt, sondern, dass diese oft verschwiegenen, vergessenen, banalisierten Kriegs-, Flüchtlings- und Angst-Erlebnisse gerade von Kindern, eine unbewusste Auswirkung auch auf die folgenden Generationen haben. In Fachkreisen… Ich unterbreche Anna und erinnere sie daran, dass ich gerne auf sie zurückkommen würde, wissen möchte, wie es ihr dabei geht. Anna schluckt. Das sichere Terrain, auf das sie durch die Inhaltsangabe gelangt war, soll sie also wieder verlassen… Ihr Blick verschwindet im Nichts. Sie schaut mich mit einem fremden Blick an und erläutert leise. Meine Eltern wurden beide im Krieg geboren. Sie sind beide, als sie noch sehr klein waren, vertrieben worden, aus verschiedenen Richtungen. Sie mussten flüchten und ihr Zuhause, ihre Heimat zurücklassen. Beide Väter waren im Krieg, die Mütter haben sich jeweils in die Flüchtlingsströme eingereiht und um ihr Überleben gekämpft – was sie auch irgendwie bis in den Westen Deutschlands geschafft haben. Was sich dabei aber alles zugetragen hat, was meine Großmütter erlebt haben, das weiß ich kaum – außer ein paar vagen Andeutungen. Ihre Männer jedenfalls starben innerhalb der ersten zehn Nachkriegsjahre. Meine Eltern lernten sich zu Beginn der 60er Jahre im Studium kennen. Scheinbar unbeschadet. Und sie wollten alles anders machen. Anna windet sich, sie ist deutlich verunsichert. (Was irritiert sie so?) Sie schaut an mir vorbei und flüstert. Ich bin in Friedenszeiten aufgewachsen. Ja, ich hatte alles, was ich brauchte. Bildung, ein Zuhause, Reisen, Kultur… Man strebte der Zukunft entgegen. Es steht mir nicht zu, zu klagen – das wäre unfair – ich hatte es doch gut. Trotzdem ist da ein Erbe zu verwalten, dem ich jetzt näher komme. Wenn ich meine Eltern nach ihrer Kindheit fragte, dann kamen immer souveräne Antworten: dass sich ihre Erlebnisse nicht mit meiner Kindheit vergleichen ließen… dass es ein Abenteuer gewesen sei… dass es eben so war, wie es war… dass man nach vorne schauen wolle und ja jetzt alles anders sei… und nichts weiter. Bei diesen Worten schwang immer eine gewisse Härte mit, eine Distanz und gleichzeitig eine sanfte und weite Verlorenheit. Ich verstehe: Vergangenheit und Zukunft sollten deutlich voneinander getrennt werden. Sie sollten nicht auseinander hervor gehen. Und die Gegenwart präsentierte sich als Insel, die von einem unbekannten Meer umschlossen wurde. Anna fährt fort: Wenn ich auf mich schaue, darauf, dass „ich“ mich immer als Fremde fühle - egal wo ich bin! - obgleich ich gut sozialisiert und ausgebildet wurde – also nicht unter Minderwertigkeit leide – werde ich ganz schwach. Mein Selbstbewusstsein ist von meiner Grundstruktur her gut ausgebildet und kaum jemand kann nachvollziehen, dass ich mich oft so unbeholfen fühle. Immer das Gefühl habe, dass ich durchhalten müsse. Dass die Welt nicht auf festen Füssen stehe, sondern tagtäglich umfallen könne… Dass es „vorübergehende Lösungen“ seien, in denen wir uns bewegen, dass es keine Beständigkeit, keine Sicherheit, kein Zuhause gibt. Sondern, dass das Leben ein Überlebenskampf ohne Festpunkt ist. Ich
schaue Anna mit neuen Augen an, diese kleine Frau hat doch
schon so viel in ihrem Leben geschafft – und sie ringt
mit solch einer Lebensunsicherheit… Das hätte ich
nie gedacht. Und, dass ihr Grundlebensgefühl durch ein
unbewusstes Kriegstrauma ihrer Eltern, die in diesem Sinne
nie eine Kindheit hatten und in eine durchgeschüttelte
Welt mit Gefahren und Unsicherheiten geboren wurden, gespeist
wird, akzeptiere ich als Möglichkeit sofort.“
***
Mein Leid „Ich
gratuliere zu diesem Forum, weil ich endlich merke, dass ich
nicht allein bin mit diesem unsäglichen Leid. Ich bin
1975 geboren und an einer Depression erkrankt. Ich breche
in Tränen aus, wenn ich nur ein paar Bilder aus dem Krieg
sehe, ein paar Sätze darüber höre. Und erst
seit zwei Jahren ist mir bewusst, was passiert war. Ein Großvater,
der seine Kriegstraumata über Jahre einem kleinen Kind
auf die blanke Seele schrieb, seine Todesängste, seine
Heldenphantasien, sein Durst, im Nachhinein eine Sinngebung
zu bekommen, für das unermessliche Leid, das er erlitten
und erzeugt hat. Die Großmutter saß daneben und
hat mitgemacht, hat sich ebenfalls die Bestätigung geholt
für den Sinn dieser Zeit. Von einem 6,7,8,9,10-jährigen.
Und sie hatten wohl das Gefühl, dass ihnen das zustand.
Und ich weiss jetzt: Das war seelischer Kindsmissbrauch. ***
Schönen guten Tag Zusammen „schon früh hat mich immer wieder das diffuse, ungute Gefühl beschlichen, dass das Thema „Kriegsenkel zu sein“ die Ursache für den schmerzhaften, anstrengenden, holperigen und traurigen Lebensweg sein könnte. Nachdem ich in diesem Forum gelesen habe, sitze ich an meinem Tisch und bin fassungslos, wie wahr dieses Gefühl ist/war.... und auch eine gewisse Erleichterung, eben nicht „meschugge“ zu sein, dass es tausenden Menschen genau so geht! Nicht schön, im Gegenteil, aber doch irgendwie tröstlich. Ich wurde im Juli 1967 geboren mit einer Zwillingsschwester; darüber hinaus habe ich noch zwei ältere Schwestern, geboren 1963 und 1964. Meine Mutter, geboren 1940 in Schlesien und vertrieben 1945 und mein Vater, geboren 1935 in Stade, sie haben ihren vier Töchtern mindestens 15 Umzüge zugemutet; teilweise wohnten wir nur ein halbes Jahr in irgendeiner Stadt, in der mein Vater einen Job gefunden hatte. Es wurde uns nie erklärt, warum wir denn schon wieder alle Brücken abbrechen, Freunde und Schulkameraden verlassen, lieb gewonnene Orte und Landschaften aufgeben sollen... es wurde einfach umgezogen und basta. Ich habe dieses unsägliche Muster übernommen...ich bin über dreißig Mal umgezogen. Nun lebe ich schon seit immerhin sieben Jahren in derselben Wohnung, aber das Nomadengefühl verlässt mich einfach nicht und was viel schlimmer ist, die bizarre Sprachlosigkeit zwischen mir und unserer Mutter ist schrecklich. Mittlerweile ist sie siebzig und hat seit geraumer Zeit eine Wahnidee entwickelt, die mich furchtbar aufregt und ratlos und wütend werden lässt. Es dreht sich nur noch alles um Juden, sie erzählt immer nur davon, dass „die Juden wieder nach Deutschland kommen“, dass „alles jüdisch ist“, „die Juden haben das Geld“ usw. dieses antisemitische widerliche Geschwätz einer alten, verbitterten Frau, die sich vom Leben komplett übervorteilt fühlt, macht mich krank. Von der Familie meiner Mutter weiß ich recht viel; sie stammten aus Schlesien, meine Oma (Mutter meiner Mutter) sprach polnisch... mein Opa war auch ein waschechter Schlesier. Der wurde im Krieg verwundet und ich habe ihn als kleines Kind nur humpelnd mit Krückstock in Erinnerung und später nur noch siechend im großen Federbett liegend, das Riesenkruzifix im Schlafzimmer und Oma, die ihn wortlos pflegte, bis er dann starb. Meine Mutter hatte noch sechs Geschwister, ein kleiner Bruder verstarb auf der Flucht an Typhus. In Auffanglagern waren die Kleinen anderthalb Jahr ohne Eltern, da mein Opa in amerikanischer Kriegsgefangenschaft war und meine Oma wegen Typhus ein dreiviertel Jahr weg war... Die
Familie/das Leben meines Vaters ist mehr oder weniger ein
weißer Fleck... wir haben nur Informationen, die kaum
greifbar sind, von denen man nicht weiß, was stimmt
und was nicht... die eine Schwester meint, Fotos vom Opa (Vater
meines Vaters) in schwarzer SS-Uniform gesehen zu haben; die
Oma (Mutter unseres Vaters) war angeblich Halbjüdin und
wir vermuten, dass die Ehe noch vor Hitlers Machtergreifung
geschlossen wurde und somit die Rassengesetze noch nicht existierten;
dass aber wiederum in der Zeit des Dritten Reiches unsere
Oma bzw. ihre Herkunft wahrscheinlich „verleugnet“
werden musste. Ich
kann mit meiner Mutter nicht sprechen; sobald Gefühle
und Gedanken ins Spiel kommen, wird abgeblockt. Sie war schon
immer sehr hart, konnte uns als Kinder oder Teenager nie trösten;
wenn wir Leid erlebten oder traurig waren, hieß es immer
„Heul nicht. Reiß dich zusammen.“ usw. Diese
Ambivalenz zwischen Verständnis, in Schutz nehmen, Mitleid/Mitgefühl
und ohnmächtiger Wut und riesenhafter Trauer, dass man
das nie bekommen hat als Kind, was man so dringend gebraucht
hätte ist schlimm und begleitet mich mein ganzes Leben. Ja, ich fühle mich ausgebremst! Genau das trifft es! In Bezug auf die Frage, wie ich mit meinen Gefühlen umgehe, so ist es meistens das Hin und Her zwischen der Ratio und dem Denken, „Du weißt doch, wo das her kommt; Du brauchst diese alten Verhaltensmuster nicht mehr!“ usw. und dem sich immer wieder aufdrängenden Nichtswertsein-Gefühl; dem „Die Anderen sind wichtiger“ „Nimm dich nicht so wichtig“ „Das steht dir nicht zu!“ - Gefühl. Das „es hat doch sowieso alles keinen Sinn“ - Gefühl. Was
mich auch total wütend macht, ist die Art, wie meine
Mutter die Vergangenheit glorifiziert und die Realität
einfach umbaut. Sie steht in ihren Memoiren immer wie eine
Art Heilige da („wie ich das alles gemacht hab allein
mit euch vier Kindern!“), und wie toll das doch letzten
Endes für uns war, dass wir so oft umgezogen sind und
der Aufenthalt im Ausland...“ „Das prägt
einen, ihr habt so viel gelernt; ihr seid einfach anders als
andere...“ Teilweise stimmt das ja. Aber was hat man
davon, so „anders“ zu sein, wenn man sich nur
einsam und nicht dazugehörig fühlt und sein Leben
nicht in den Griff zu bekommen scheint? Ich ertappe mich auch immer dabei, wie ich beim Fernsehen schauen immer und immer wieder bei Dokumentationen über Krieg, Hitler, Vertreibung, Holocaust usw. hängen bleibe! Es ist wie ein Sog. Dann schaue ich mir diese Sendungen an und fange jedes Mal bitterlich an zu weinen... es ist wie eine tonnenschwere Last, die auf mir liegt; ich fühle so viel Schuld und Mitleid und Trauer in mir. Ich habe auch große Angst davor, wenn meine Eltern sterben, wie es dann weitergeht? Ob die ungesagten Dinge weiter in den Hälsen stecken bleiben und die Herzen verhärten und verklumpen... ob dann alles noch schlimmer wird oder ob es vielleicht besser wird..?! Die
körperliche Komponente ist auch interessant; die Mutter
hat sehr hohe Cholesterinwerte (das ständige auf der
Hut/Flucht sein treibt die Leber an), alle vier Töchter
haben ebenfalls hohes Cholesterin. Von den Depressionen und
depressiven Verstimmungen, die wir alle vier haben, hatte
ich ja bereits gesprochen. Von den ständig hochgezogenen
Schultern, dem eingezogenen Hals, dem Zähneknirschen
und der allgemeinen Verkrampftheit des Körpers, des sich-nie-richtig-entspannen-könnens
mal ganz abgesehen.“ *** „Die Art meines Zugangs über psychologische
Beratung und Therapie erlaubt mir einerseits tiefe Einblicke
in Familien ehemaliger Täter oder NS-identifizierter
Mitläufer, andererseits haben diese Einblicke auch ihre
Grenzen: Stets bedacht sein wollen die geringe Zahl und die
jeweils subjektive und nicht konfliktfreie Sicht der Informanten.
Diese sind an dieser Stelle geradezu regelhaft die Ausgeschlossenen,
die Randfiguren ihrer Familiensysteme. Als außerordentlich
typisch habe ich über die Jahre hinweg eine Aufspaltung,
eine Polarisierung in diesen Familien erfahren, wonach etwa
bei vier Kindern drei ganz auf Seiten der Eltern stehen, das
vierte dagegen völliger Außenseiter ist, dies meist
von früher Kindheit an. Gegen sie hat sich Gewalt von
beiden Elternteilen gerichtet in Form von Vernachlässigung,
Misshandlungen, sexuellem Missbrauch, Missachtung, massiven
Abwertungen bis hin dazu, sie als verrückt zu erklären.
Dies geschieht regelhaft, wenn und weil sie das eherne Schweigegebot
in den Familien zu verletzen drohen. Genau das aber ist ihnen
eine existenzielle Notwendigkeit, haben sie doch schon als
kleine Kinder etwas von der verschwiegenen und verleugneten
Gewaltrealität hinter der biederen Fassade gespürt,
sind dringend darauf angewiesen, dass diese Wahrnehmungen
und Ahnungen mit ihnen geteilt werden, sehen sich ansonsten
tatsächlich der Verrücktheit preisgegeben und sind
nicht selten als psychiatrisch krank erklärt und in Nervenkliniken
eingeliefert worden.
***
Kind kriegsbelasteter Vertriebener Ich bin 1956 geboren und suche nun seit fast 30 Jahren nach den Gründen für meine Probleme, bzw. nach einer Möglichkeit sie aufzulösen. Seit vielen Jahren frage ich mich, was mit mir los ist und warum ich mein Leben überhaupt nicht auf die Reihe bringe. Ich war drogenabhängig, hatte Bulimie, hatte schwere Depressionen, war medikamentenabhängig, bin völlig bindungsunfähig, finde keinen Platz an dem ich bleiben kann, ziehe immer wieder um, fühle mich immer fremd, kann keine berufliche Tätigkeit ausüben, weil ich es an keinem Arbeitsplatz aushalte. Ich habe verschiedene Studien angefangen und wieder abgebrochen. Erst mit 40 habe ich eine Berufsausbildung abgeschlossen, konnte aber dennoch nicht in dem Beruf arbeiten. Ich habe zahlreiche Therapien hinter mir. Ich
konnte mich zwar von meiner Drogen- und Medikamentensucht
befreien, auch die Bulimie ist kein Thema mehr, doch immer
noch lebe ich kein normales Leben. Ich ertrage keine Nähe,
habe Probleme mit Gefühlen, ich laufe immer davon (bin
immer auf der Flucht) und ich weiß irgendwie nicht wer
ich bin. Es traf mich wie ein Schlag. Einerseits war es wie ein Befreiungsschlag. Endlich endlich weiß ich, was mit mir los ist. Andererseits war es ein Schock. Seit ich das Buch gelesen habe, zieht mein ganzes Leben an mir vorbei. Immer wieder fallen mir Situationen mit meinen Eltern ein, die ich nun unter einem anderen Licht sehe. Es ist erschreckend und der Schmerz um das Leid meiner Eltern haut mich fast um. Meine Eltern waren beide Vertriebene aus dem Sudetenland. Meine Eltern waren keine Kinder mehr, als sie flüchten mussten, sie sind beide Anfang der 20er Jahre geboren, doch auch sie erlebten scheinbar so viel Leid, dass es sie für ihr ganzes Leben geprägt hat. Meine Mutter hat ihr Leben lang nicht darüber geredet. Erst ein paar Wochen vor ihrem Tod erzählte sie mir von ihrer Flucht. Und das auch nur andeutungsweise. Und ich habe nichts verstanden, nichts nachgefragt. Ich bin aufgewachsen unter einem schweren Mantel des Schmerzes und des Leids und der Sehnsucht nach der Heimat. Doch nie wurde davon auch nur ein Wort ausgesprochen. Der Schmerz lag um uns, aber er wurde nie mit Namen genannt. Nur die Heimat wurde öfters erwähnt. Aber nicht konkret. Ich erinnere mich, dass ich als Kind nicht wusste, was „Sudetenland“ ist und was das zu bedeuten hat. Dieses Wort schwebte in unserer Familie und machte uns zu etwas Besonderem, Andersartigem. Wir lebten irgendwie abgeschirmt von der „normalen“ Welt da draußen. Besuch kam fast nie. Es hieß immer, hier sind wir und dort die anderen. Alles was außerhalb unserer Familie war, war Gefahr. Uns wurde eingetrichtert, jedem Fremden zu misstrauen. Meine Eltern unternahmen nichts, gingen nicht aus, nicht ins Theater oder ins Kino oder zu Freunden. Sie hatten keine Freunde. Unser Leben spielte sich zuhause ab, dort war man sicher. Aber ich verstand nicht warum das so war. Es wurde nichts erklärt. Das ist das Schlimme. Ich merke nun, dass ich mein Leben lang versucht habe, in ein Raster zu passen, das von Flucht, Heimatverlust, Schmerz und Angst geprägt war. Ich wusste immer irgendwie, dass ich da nicht hineinpasse, aber es war ja das Raster, das mir meine Eltern vorgegeben hatten. Sie waren die einzige Orientierung die ich hatte. Wie hätte ich wissen können, dass Krieg und Vertreibung die Ursachen für ihr Verhalten und ihre Regeln waren. Ich
bin dankbar, dass ich endlich erfahren durfte, warum ich solche
Schwierigkeiten in meinem Leben habe und warum bei uns alles
so seltsam war. Ich hoffe, dass ich das alles nun vielleicht
doch noch aufarbeiten kann. *** Mein Erbe „Mein
Schweigen der ersten 50 Jahre zu brechen ist der Anfang dessen,
was ich mutig tun will, um mich aus den Fesseln von Scham,
Schuld, Sucht, Leichtsinn, Zerstörungsenergie zu befreien
und für mich selbst dieses Erbe zu würdigen, im
Geiste eines höheren Ziels, das LIEBE heißt.“ *** Muttervertreibung „So
klingt es immer wieder in mir: *** Horror vacui „Ich
zog für das Studium in eine kleine Substandardwohnung
(WC am Gang, Dusche in der Küche - ähnlich wie die
Wohnung meiner Urgroßmutter, zu der meine damals gerade
verwitwete Großmutter mit ihren drei verbliebenen Kindern
gezogen war) und wohnte dort 18 (!) Jahre (die meiste Zeit
davon mit meinen damaligen Lebenspartnern), auch als *** Der lange Weg der Erkenntnis „Dies
ist eine längere Geschichte, unbewusst begann sie bereits
vor Jahren, seit Ende 2005 wurde sie jedoch zur Belastung.
Ab dieser Zeit hatte ich regelmäßig mit Schwindel
zu tun, der mich teils tagelang und phasenweise auch wochenlang
lahm legte. Die Ursachenerforschung des Schwindels setzte
bei mir eine Odyssee von Arztbesuchen in Gang: Orthopäden,
HNO, Neurologen, einschließlich Kernsprinthomografie,
eine Gleichgewichtsanalyse sowie eine statische Vermessung
der Wirbelsäule und zuletzt noch eine Aufbissschiene.
***
*** Birgit Weidt im Gespräch mit Sabine Bode, Autorin des Buches „Kriegsenkel – die Erben der vergessenen Generation“, Klett-Cotta, 2009 Inwiefern übertrug sich die nicht aufgearbeitete Vergangenheit der Eltern auf die Kinder? Bode: Das lief nicht bewusst ab und deshalb muss deutlich werden, dass es bei diesem Thema auch nicht um Schuld oder um Beschuldigung geht. Die von mir befragten Kriegsenkel leiden durchweg an einem Mangel an Emotionalität von Seiten der Mutter und/oder des Vaters. Der Satz, den ich immer wieder hörte, lautete: Ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen.’ Auffällig häufig war von Müttern die Rede, die wenig körperliche Nähe zulassen konnten. Diese haben es selbst nie erfahren. Sie wussten nicht, was es heißt, getröstet zu werden, denn sie waren von ihren eigenen Eltern mit ihren Ängsten und Nöten im Krieg alleingelassen worden. Das übertrugen sie später auf ihre Kinder, denn, selbst Eltern geworden, empfanden sie es wohl so, dass all die normalen Probleme von Kindheit und Pubertät doch nichts gegen die Schrecken waren, die sie einst selbst erlebt hatten. Aber man muss sich klar machen: Den meisten Eltern war überhaupt nicht bewusst, dass sie diese Nachwirkungen des Krieges in sich trugen. Das Besondere bei den Kriegskindern ist ja: Hier handelt es sich um eine große Gruppe von Menschen, die in der Kindheit verheerende Erfahrungen machte, aber über Jahrzehnte in der Mehrzahl eben nicht das Gefühl hatte, etwas besonders Schlimmes erlebt zu haben. Denn es fehlte ihnen der emotionale Zugang zu diesen Erfahrungen und damit auch der Zugang zu den wichtigsten Prägungen. Dennoch wurden sie davon gesteuert. Was wäre Ihre Botschaft an die Kriegsenkel? Bode: Es müsste das Ziel sein, die eigenen Eltern besser zu verstehen und sich gleichzeitig auch endlich von ihnen abgrenzen zu können. Im Prinzip geht es darum, zwischen unguter Fürsorge und angemessener Unterstützung zu unterschieden. Die Kriegsenkel sollten sich nicht länger darum bemühen, ihre Eltern emotional zu erreichen, sondern die Beziehung so zu akzeptieren wie sie ist. Ich glaube nicht, dass solche Eltern sich nach mehr Nähe sehnen. Stattdessen ist es für die Kriegsenkel Zeit, sich selbst wesentliche Fragen zu stellen: Will ich beruflich noch einmal Gas geben? Will ich noch eine Familie gründen? Das setzt voraus, dass man sich gedanklich von den Eltern lösen kann, dass es nicht länger solch einen Unruhefaktor im Leben gibt, unter dem Motto: Ich muss die Mutter wieder anrufen, oder hoffentlich war der Vater beim Arzt, er sorgt so schlecht für sich. Es ist wichtig, sich so etwas bewusst zu machen. Es ist ein großer Unterschied, ob man etwas automatisch tut, weil es eben immer schon so war, oder ob man sich altersgerecht abgrenzt, indem man bei sich wahrnimmt: Es ist eine Belastung, wenn man die Eltern beeltern muss. Es geht auch darum herauszufinden: Kann ich eigentlich selbst gut für mich sorgen? Oder komme ich zu kurz, weil diese Dinge mir die Kraft absaugen, die ich eigentlich brauche, um in meinem eigenen Leben anzukommen und es zu gestalten. In
Ihrem Buch schreiben Sie, dass Kriegsenkel von einem sekundären Bode: Ein Teil der Fachwelt spricht von einem, sekundären Trauma’, der andere Teil meidet in diesem Zusammenhang den Begriff Trauma und spricht von Menschen mit Bindungsstörungen, oder abgeschwächt von solchen, die unsicher gebunden sind. Eine Auffälligkeit in dieser Generation sind also gewisse Bindungsprobleme. Viele Kriegsenkel sagen: ‚Ich habe keinen Boden unter den Füßen, und ich kann es nicht aushalten, wenn mir ein anderer Mensch zu nahe kommt.’ Unsicher gebunden zu sein heißt, wenig Halt zu haben und übermäßig misstrauisch zu sein. Das belastet enge Beziehungen, denn die Fähigkeit zu vertrauen ist ja eine zentrale Voraussetzung für eine gute Beziehung. Viele Kriegsenkel leben also die unverarbeiteten Ängste der Eltern in verdünnter Konsistenz weiter. Stellen Sie sich eine Frau vor, die als Dreijährige monatelang mit Mutter und Großmutter auf der Flucht war. Natürlich kann sie sich als Erwachsene kaum daran erinnern. Sie sah sich nicht als Kriegskind, sondern als Nachkriegskind. In den Biografien meines Buchs taucht zu 80 Prozent im persönlichen Hintergrund Flucht und Vertreibung auf. Den Kindern der Flucht wurde nach gesagt: Vergiss alles und schau nach vorn. Also wurde verdrängt, so gut es ging. 14 Millionen Menschen verloren nach dem Krieg ihre Heimat. Sie versuchten sich mit dem Gedanken zu trösten: Wenn es materiell aufwärts geht, wenn die Kinder gute Schulnoten heimbringen, dann ist das Schlimmste überstanden. Doch bei den meisten Menschen, die als Erwachsene vertrieben wurden, blieb lebenslang ein Schmerz. Sie empfanden die neue Umgebung als Exil. Auch das mussten deren Kinder, die Kriegskinder, verkraften.
***
„Kinder merken enorm viel. Aber wenn dieses Wissen im Untergrund bleiben muss..., dann bewegt sich dieser Mensch auf den dunklen Schienen eines unerkannten Wiederholungszwangs durch sein Leben“. Jürgen Müller-Hohagen, „Geschichte in uns“, S. 21
***
„Meine
Wohnung ist mir heilig. Sie ist ein Ort der Zuflucht, der
Ruhe und Geborgenheit. Wenn ich am Fenster meines Zimmers
stehe, schaue ich nach Osten in einen Garten mit Blumen und
Efeu an der Wand. Dort tummeln sich Vögel, mit denen
ich oft stumme Dialoge führe. Gehe ich durch mein Zimmer
und meine kleine Diele in die Küche hinüber, dann
schaue ich in einen typischen Berliner Hinterhof nach Westen.
„In
der Forschung ist längst bekannt, dass traumatische oder
belastende Erfahrungen, wenn sie nicht aufgearbeitet wurden,
an die nächste Generation übertragen werden können
– man nennt diesen Prozess "transgenerationale
Weitergabe".
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„Eine
Zeit der gemeinsamen Trauer hat bei uns in der Familie nie
stattgefunden.“
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Über Loyalität: „Die Verpflichtung, die Schuld, entsteht doch häufig da, wo Mißtrauen war, Ausbeutung, Verlassenheit. Das Kind schont und stützt seine Eltern ein Leben lang, wo sie versagt haben, weil es dort nicht frei werden konnte.“ Frau G., Jürgen Müller-Hohagen, „Geschichte in uns“, S. 49
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„Manchmal
ist die deutsche Sprache faszinierend: In ihrer Klarheit und
in ihrer deutlichen Bildsprache ließ sie mich schon
manche Erkenntnisse haben – manchmal sollte man sie
aber auch korrigieren. So zum Beispiel dies: Ich habe manchmal
das Gefühl, ich bin gestört, weil ich so viele Macken
und Ticks habe und manchmal nicht weiß, was das alles
soll, warum ich die habe. Seit längerer Zeit beschäftige
ich mich dem 2. Weltkrieg, schließlich mit meinen Eltern,
die als Kinder unzählige Bombennächte miterlebt
haben, nächtelang Todesängste durchlebten - und
dann nach dem Krieg taten, als ob alles vergessen werden kann,
was erlebt wurde. Ich, 1962 in einer süddeutschen Kleinstadt
geboren und aufgewachsen, habe dieses Muster komplett übernommen:
Über diese Themen geschwiegen, sie als unwichtig, nichtig
abgetan, wer sich damit beschäftigt, habe ich immer gedacht,
der hat doch ein Problem, der ist depressiv oder ein „Gut-Mensch“
– lasst doch endlich die Vergangenheit ruhen! So, wie
meine Eltern es taten: Nach Außen soll alles Top aussehen,
Hauptsache, die Fassade stimmt. Und was dahinter passiert,
das ist Privatsache, das sind private Probleme. Meine Fassade
bröckelte dann, eben weil ich merkte, wie gestört
ich in manchen Dingen bin: Beziehungsunfähig, Eigenbrödler,
der keine Nähe zulassen kann, depressive Rückzugstendenzen,
Schreckhaftigkeit oder in der Nacht aufwachen und Angst bekommen,
aber nicht zu wissen, wovor. Doch auch ich habe das alles
immer runtergespielt, das ist doch nichts, ich darf doch nicht
klagen, ich habe doch noch nie etwas wirklich Schlimmes erlebt.
Und es spuken die Sprüche durch den Kopf wie: „Was
mich nicht umbringt, macht mich stark!“ Aber jetzt denke
ich: Die Fassade hat bei meinen Eltern zwar perfekt funktioniert
(Arbeit, Haus, Garten, gepflegte Kleidung) aber dahinter,
in der Psyche, sah es dunkel und leer aus. Und dadurch bin
nämlich nicht ich gestört, sondern ich wurde gestört,
und zwar in meiner psychischen Entwicklung. Dadurch, dass
ich zwar körperlich gut versorgt wurde, aber psychisch
vernachlässigt, wurde ich gestört und konnte viele
Dinge, so zum Beispiel Vertrauen in mein Handeln, Selbstgefühl
oder auch Vertrauen in meine Umgebung und in andere Menschen,
nicht entwickeln. Anders nämlich als "Ich bin gestört",
was ja immer heisst, ich bin gestört im Inneren, ich
bin es aus mir selbst heraus, heisst: "Ich bin gestört
worden", dass nicht ich die Ursache der Gestörtheit
bin, sondern sie von außen kommt und die ich angenommen
habe/nicht anders konnte als sie annehmen. So verortet bekommt
dieser Begriff endlich seine richtige Bestimmung.“
Reich
mir die Hand, mein Leben
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